23/11/2014

Der Artikel von Karin Tschavgova erschien am 07. September 2013 im SPECTRUM der Tageszeitung Die Presse.

2014 wird Lina Bo Bardi anlässlich ihres 100. Geburtstags in zahlreichen Ausstellungen, Publikationen und Artikeln gewürdigt. In München ist ihr
Werk derzeit in der Pinakothek der Moderne unter dem Titel Lina Bo Bardi 100. Brasiliens alternativer Weg in die Moderne. zu sehen. Siehe Terminempfehlung!

23/11/2014

Sozial- und Kulturzentrum 'SESC Pompéia' in São Paulo. Architektur: Lina Bo Bardi, 1977. Foto: Markus Lanz, 2014

Sozial- und Kulturzentrum 'SESC Pompéia' in São Paulo. Architektur: Lina Bo Bardi, 1977. Foto: Markus Lanz, 2014

Sozial- und Kulturzentrum 'SESC Pompéia' in São Paulo. Architektur: Lina Bo Bardi, 1977. Foto: Markus Lanz, 2014

MASP – Museu de Arte de São Paulo; Überdachter Stadtraum unter dem Gebäude, Blick auf die Stadt. Architektur: Lina Bo Bardi, 1957-1968. Foto: Markus Lanz, 2014

Filmmatinee: 'Precise Poetry – Lina Bo Bardi’s Architecture' am 30.11.2014, 11:00 Uhr, Rechbauerkino Graz

©: ZV Steiermark

Anlässlich der Filmmatinee im Grazer Rechbauerkino am Sonntag, den 30.11.2014, bei der Lina Bo Bardis Werk und Arbeitsweise im Film Precise Poetry. Lina Bo Bardi’s Architecture (2014) von Belinda Rukschcio beleuchtet und gewürdigt wird, bringt GAT einen Artikel, den Karin Tschavgova im September 2013 im Spectrum über die Architektin veröffentlicht hat.

Die Schönheit des Rauen

Lina Bo Bardis primäres Interesse galt dem Prozess der Entstehung eines Gebäudes und der Aneignung und Bespielung durch die Menschen. Am schönsten zeigt sich das am Sozial- und Kulturzentrum SESC Pompéia. Ein Besuch in São Paulo.

Brasilien! Sehnsuchtsland aller, die in Brasilia die am Reißbrett entworfene Vision einer modernen Stadt und eine Architektur der Moderne erkunden wollen, die von Zwängen aller Art frei zu sein scheint. Ihr alles überstrahlender, aber auch alles dominierender Mittelpunkt: die vielen öffentlichen Bauten, die Oscar Niemeyer in mehr als sieben Jahrzehnten unter wechselnden Regierungen, selbst während der Militärdiktatur, realisieren konnte. Brasilianische Architekten wie Paulo Mendes da Rocha, Alfonso Reidy oder Roberto Burle Marx standen lange Zeit im Schatten der Architektur Niemeyers mit ihrem Reichtum an plastischer Formenschönheit. Heute ist ihr Beitrag zur brasilianischen Moderne international bekannt.

Und dann ist da noch Lina Bo Bardi. Für die 1946 aus Italien nach São Paulo eingewanderte Architektin wurde Brasilien rasch zur ersten Heimat, in der sie bis zu ihrem Tod 1992 Häuser und Möbel entwarf, Ausstellungen kuratierte und sogar Museumsdirektorin war. Ihr wunderbar facettenreiches, wenn auch relativ schmales Werk erhält erst jetzt langsam Aufmerksamkeit und den internationalen Stellenwert, der ihm angemessen ist (das AZW zeigte ab Mai 2013, nach der British Council Gallery in London, die Ausstellung Lina Bo Bardi: Together Dass ihre Bekanntheit geringer ist als die ihrer männlichen Kollegen im Land hat wohl mehrere Gründe. Mag sein, wie Publizisten meinen, weil man sie nicht als reine Vertreterin der Moderne einordnen kann. In ihre Arbeit fließt immer wieder ihre Passion für traditionelle brasilianische Kulturen ein, und der Kontext zu Ort und lokaler Geschichte bleibt wichtig. Dem Anspruch des internationalen Stils, ein weltumspannendes gesellschaftliches Modell des Bauens zu sein, kann sie nichts abgewinnen. Andererseits hat Lina Bo Bardi zu ihrer Bekanntheit selbst nicht viel beigetragen. Sie war nicht interessiert an der Publikation ihrer Werke. Ihr primäres Interesse galt dem Prozess der Entstehung eines Gebäudes und der Aneignung und Bespielung durch die Menschen, die es nützen.

Am schönsten zeigt sich das am Sozial- und Kulturzentrum SESC Pompéia in São Paulo, das neben dem MASP, dem Museu de Arte de São Paulo, das wohl wichtigste Bauwerk der Architektin ist. Im Arbeiterviertel Palmeira sollte Bo Bardi 1977 auf dem Gelände einer ehemaligen Fassfabrik, die zum Abriss bestimmt war, ein Sport- und Freizeitzentrum entwerfen. Mit dem Auftrag betraut, ist ihre erste Tat, sich vehement dafür einzusetzen, die Fabrikgebäude als Zeichen einer bei den Bewohnern noch präsenten Vergangenheit zu erhalten. Was heute gang und gäbe ist, war damals unbekannt und ungewöhnlich – ein Experiment. Es gelingt ihr zu überzeugen.

Bo Bardis Eingriffe sind sparsam: Sie stellt die Hallenkonstruktionen frei, öffnet Dächer mit Glas, baut, wenn nötig, einfache Galerien und Podien oder Kojen in Beton ein und lässt einen Steinboden verlegen, wie man ihn von städtischen Plätzen kennt. Sie bereichert die Hallen mit kompakter Möblierung, einer großen Feuerstelle und einem mäandernden Wasserlauf, der die funktionelle Strenge der Hallenbauten ebenso heiter bricht wie das Rot, das sich an unterschiedlichsten Gebäudeteilen überall auf dem Areal wiederfindet. Alle Hallen sind offen und frei zugänglich. Es werden Kurse zur kreativen Gestaltung abgehalten, es gibt ein Theater, Werkstätten, Ausstellungsräume, eine gut besuchte Bibliothek und eine konkurrenzlos günstige Kantine.

In einem zweiten Bauabschnitt setzt die Architektin, neben überdachten und offenen Platzräumen und einer alles verbindenden Gasse, am Rande des dorfartigen Ensembles aus Backstein ein starkes Zeichen. Sie lässt drei Türme aus rauem Beton bauen – einen Wasserturm und zwei zueinander verdrehte hohe Bauten für sportliche Aktivitäten. In einem stapelt sie eine Schwimmhalle und vier Sportfelder übereinander und verbindet sie über Brücken mit dem anderen, der die Erschließung und Umkleiden enthält. Steht man davor, beeindruckt die Monumentalität des Komplexes. Er ist einfach und rau, wie Industriebau; dabei gut proportioniert und mit sparsam gesetzten, amöbenartigen Fensteröffnungen aufgelockert, aber so massiv und trutzig gebaut, so als wollte die Architektin verhindern, dass man ihn später abreißen kann.

Schönheit und Ästhetik waren für Bo Bardi kein Selbstzweck. Selbst der Moment der architektonischen Perfektion eines Bauwerks im Augenblick seiner Fertigstellung, jungfräulich, wie Architektur immer noch meist fotografiert wird, interessierte sie angeblich kaum. Es ist verbrieft, dass sie nicht nur in der Bauzeit vor Ort arbeitete, sondern auch danach Kunstschauen initiierte und gestaltete. Die Ausstellung im AZW, die das programmatische together im Titel trägt, zeigte in filmischen Sequenzen das SESC Pompéia im Gebrauch und verdeutlichte, worum es der Frau, die als stark, brillant und streitbar beschrieben wird, ging. Sie sah die Menschen im Mittelpunkt ihrer Architektur und wollte ihnen etwas zur Verfügung stellen, das ihr Leben bereichert. Was oft nur Phrase oder nicht eingelöster Anspruch ist, kann in diesem Zentrum, das von der brasilianischen Organiation SESC, dem sozialen Dienst des Handels, über eine obligatorische Handelsabgabe finanziert wird, in der Alltagsrealität erlebt werden.

Samstag mittags, Scharen von Besuchern, alle Türen stehen offen. Männer spielen Schach, Jugendliche Basketball oder Fußball, man sonnt sich auf dem Beach genannten Holzsteg oder meldet sich mit einem symbolischen Betrag für Kurse an, liest oder kauft Essensmarken. Kunst wird nicht nur ausgestellt (Olafur Eliasson war 2011 dort), sondern auch produziert – ganz im Sinne der Kunst liebenden Bo Bardi.

Es ist vielleicht kein Zufall, dass die Bedeutung ihrer kraftvollen Architektur gerade jetzt erkannt wird. Ihre Bauten sind nicht nur von konzeptuellem Denken, sondern auch von sozialen Überzeugungen geprägt. Sie schaffen Raum, der offen ist für Überraschendes, nicht Vorhersehbares. Raum, der sich allen Nutzern öffnet, unabhängig von Alter, Stand und Einkommen. Im SESC Pompéia ist es Raum für die seltene Koexistenz von Kunst und Kunstgewerbe, Sport und Hochkultur, Wissensdurst und Nichtstun. Öffentlicher Raum.

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