17/10/2012
17/10/2012

Homepage steirischer herbst 2012, Screenshot Startseite

©: steirischer herbst

„Die Wahrheit ist konkret“, zitierte der steirische herbst 2012 den großen Bertolt Brecht.
Aber welche Wahrheit? In der zum Marathon-Camp umgebauten Thalia ging es um die Wahrheiten der Straße, der arbeitslosen Jugendlichen, der von Occupy Wallstreet apostrophierten 99 Prozent, kurz der außerparlamentarischen Stimmen. In einem mächtigen sieben Tage andauernden Chor referierten, theoretisierten und begegneten einander mehr als 200 Teilnehmer täglich 24 Stunden, 15.000 Besucher kamen, ein Video-Lifestream wurde weltweit wahrgenommen. Nur als Pars pro toto: Zwei Aktivistinnen der ukrainischen „Femen“-Bewegung referierten über die immer noch andauernde Wirkung bloßer Busen im Kampf gegen Sexismus, Frauenhandel und politische Willkür. Reverend Billy von der Church  of Stop Shopping pilgerte mit dem Slogan „Art get`s dirty from oil“ ins Grazer Kunsthaus und vergoss dort etwas von dem Stoff auf dem Fußboden. Die daran anschließende Exkommunikation eines Bankomaten ließen die Angestellten einer Raiffeisenkasse in der Annahme, es handle sich um ein Projekt des steirischen herbst widerstandslos über sich ergehen. Am Hauptplatz wurde zur Freude von Bürgermeister Nagl eine „Zone für Alkoholkonsum“, in der Hans-Sachs-Gasse eine Bettelzone etabliert, das „
eclectic electric collective“ (D) demonstrierte, wie Demonstranten mittels riesiger aufblasbarerer Skulpturen Polizeikräfte irritieren können. Die Stimmung erinnerte an das „Open House“ im Orpheum, nur sind die Aktivisten seit dem Ausbruch des digitalen Zeitalters medial wesentlich gefinkelter geworden. Gleichzeitig wurde aber auch die Wahrheit (und der Terror) des Überangebotes sichtbar. Selbst die Aktivisten im Camp fragten sich, wer das überreiche Angebot mitbekommen sollte. Wie so oft kochten sie meist in ihrem eigenen Saft. Stellte das „Camp“ also nur das Ventil zum „Dampfablassen“ dar, wurde die Wucht der Protestformen durch ihre Integration in den Kunstbereich verharmlost? Oder sind künstlerische Strategien denkbar, die auf gesellschaftliche und politische Gegebenheiten einwirken? Eine zusätzliche Öffnung nach außen, etwa auf Universitätsebene wie seinerzeit in den „steirischen akademien“ hätte vielleicht zusätzlich Klärung ermöglicht. 

Bankett als Inszenierung eines Banketts

Wie schwierig pompöse Rituale (Parodien ausgenommen) in den Kunstbereich zu integrieren sind, zeigte ein Bankett in der Listhalle, das zugleich die Inszenierung eines Banketts sein sollte. Unter dem Namen „Re-Branding European Muslims“ sollten (zahlende) Gäste eines Gala-Banketts eine von drei Werbeagenturen wählen, die anlässlich der hundertjährigen, offiziellen Anerkennung des Islam in Europa ihre Imagekampagne für Muslime präsentierten. Wobei dem Ausdruck „Branding“ auf Menschen angewandt, etwas Brutales anhaftet, auch wenn er in der Branche durchaus üblich ist.

Die Gala mit Eintrittspreisen bis zu 100 Euro bot ein frugales Menü aus Kuskus und Tomatensauce, die Weine waren allerdings ordentlich. Der einzige Politiker, ausgenommen die Grüne Lisa Rücker, war der als Redner eingeladene Wiener Landtagsabgeordnete Omar Al-Rawi. Ansonsten fehlte die sonst bei repräsentativen herbst-Eröffnungen reichlich anzutreffende politische und gesellschaftliche Prominenz. Die unvermeidlichen Showeinlagen bestanden aus dem Chor des Islamischen Kulturzentrums Graz. Am beeindruckendsten war der Muezzinsänger, der ganz hoch und ganz hinten in einer Ecke der kühlen Empfangshalle während des Einlasses agierte.

Der Sieger, Mariusz Jan Demner machte nach einer furiosen Tanzpräsentation mit Fez bzw. Steirerhut eigentlich mehr Werbung für seine berühmte Werbeagentur, als für die Muslime: Sein Projekt „Look Twice“, das auf dem „Lesen“ von Kippbildern, im Konkreten mit dem Erkennen von lateinischer Buchstaben unter pseudoarabischen Zeichen beruht, scheint politisch von eher marginalem Wert. Die Frage ist, ob schwierige politische Themen in der kapitalintensiven Dienstleistungsform der Werbung überhaupt adäquat behandelt werden können.

Trockene Anfänge

Die flankierenden Theaterarbeiten vor allem am ersten Wochenende waren eher trocken: in „33 rounds and few seconds“ stellten Rabih Mroué und Lina Saneh die Frage nach dem Freitod eines jungen Libanese, dessen Unerklärlichkeit zum Katalysator einer Gesellschaft wird: eine technisch perfekte Theater-Installation, nur bestehend aus Mails, Stimmen vom Telefonanrufbeantworter, Facebook-Eintragungen und Youtube-Filmen. Allerdings zeigt sich bald, dass die reduzierte Form einer „Facebook-Oper“ doch eher Meinungen als einen Diskurs ermöglicht. Das Moskauer „Teatr.doc“ schilderte in einem kargen Authentizitätstheater den Tod eines Untersuchungshäftlings wegen unterlassener Hilfeleistung und legte damit Verfahren und Mentalität eines halb totalitären Justizsystems offen. Um „Druck“ ging es auch in „Come Back“, einer Arbeit der Choreografin Doris Uhlich, die pensionierte Balletttänzerinnen inszenierte. „Black Swan“ einmal anders. Das Anliegen von Marieluise Jaska, Renate Louky, Violetta Springnagel-Storch (!), Percy Kofranek und der ehemaligen Staatsopern-Primaballerina Susanne Kirnbauer-Bundy bestand in selbstironischem Protest gegen Tanz-Drill und frühes Leid.

Starkes Finish

Fraglos stark war das letzte Wochenende mit „The Insurrected Body“ der mexikanischen „La Pocha Nostra“ und „The Untitled Feminist Show“ der New Yorker Regisseurin Young Jean Lee. Die mexikanische Truppe schockte mit wüsten, der Religion und Gewalt entliehenen Bildern und Riten, zusätzlich angereichert mit Kitsch und Sex: falsche Phalli, eine mit Benzin übergossene Pieta, Indianerkopfschmuck und Stöckelschuhe in Kombination mit Stiefeln, dazu Live-Regieanweisungen, die vor dem Publikum keineswegs Halt machten. Young Jean Le´s Truppe aus sechs nackten Frauen unterlief dagegen voyeuristische Erwartungshaltungen. Zwar sind die feministischen Wurzeln unübersehbar, aber das geht keinesfalls auf Kosten der Individualität. Ihre Nacktheit fungiert als Projektionsfläche, auf der diese Stars aus dem Burlesque Underground ihre angenehm wortlose Version der Gender Politics vorführen. Ironisch, verrückt, humor- und durchaus liebevoll repräsentieren die Schauspielerinnen unterschiedliche, auch männliche Identitäten, entwickeln mit Einsatz von Videos, Pantomime und Tanz Figuren wie Hexen, Monster, Hausfrauen und bleiben dabei doch immer sie selbst – vermutlich auch ein Resultat der praktizierten Nacktheit. Eine wichtige Erstaufführung im deutschen Sprachraum. 

Enttäuschend war wohl die Installation des großen Pistoletto im Kunsthaus - eine Orgie aus Fichtenholz für das Auslegen von jeder Menge Text. Die Minoriten hissten unter dem Titel „Nicht von hier“ gewissermaßen die Landesflagge mit einer Personale von Alois Neuhold. Der suspendierte Priester, der mit „Neuvalis“ signiert, verbindet Magisches mit Politischem, und gibt in seiner Malerei der Kunst das Kultische wieder zurück. Ansonsten viel Kuratorenkunst. Die Literatur um die alljährlich wiederkehrende Gerhild Steinbuch gruppiert, gelangte trotz Postwurfsendungen und Plakataktionen nicht recht ins Bewusstsein der Öffentlichkeit. Es müssen ja nicht immer „die Grazer“ sein, aber Graz als Wirkungsort der Literatur reduziert zu haben, ist wohl ein Mangel der Ära Kaup-Hasler.

Insgesamt also ein aktueller und engagierter steirischer herbst mit nachvollziehbarer Programmatik und starken Momenten. Kaup-Hasler ist eine Präsentation des Ist-Zustandes politisch engagierter Kunst gelungen, die sich zwanglos mit der politischen Aktion verbunden hat. Dieses kontinuierliche Fortschreiten der Kunst ins Leben lässt allerdings immer weniger Kristallisationspunkte entstehen. Bei aller Professionalisierung bleiben die künstlerischen Hierarchien merkwürdig flach, entsteht eine dem Leben abgeschaute Unübersichtlichkeit. Man kann es ironisch sehen: Indem das Vielspartenfestival seinem Anspruch immer gerechter wird, droht es sich selbst zu erschöpfen.

Letzte Meldung: Bei 579 Veranstaltungen an 24 Festivaltagen fanden sich rund 45.000 Besucher ein.

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