05/08/2015

Biennale Arte 2015
Kunstbiennale Venedig 2015

Kurator
Okwui Enwezor, Nigeria

Thema
ALL THE WORLD´S FUTURE

09.05. – 22.11.2015

Die Lagunenstadt verfügt nach wie vor über dieses unwirkliche Licht und die steinerne Pracht der Serenissima bildet immer noch die Projektionsfläche für die Narreteien und Utopien der Kunst ...

05/08/2015

Anna Zvyagintseva, "Hope!" – gestrickter Käfig, ukrainischer Pavillon an der Uferpromenade zwischen Giardini und Arsenale

©: Wolfgang Riederer

Ibrahim Mahama, "Installation, Kohlensäcke", Arsenale-Mauern

©: Wolfgang Riederer

Heimo Zobernig, "Ohne Titel", österreichischer Pavillon

©: Wolfgang Riederer

Erdfarbenbilder, Herman de Vries, holländischer Pavillon

©: Wolfgang Riederer

Herman de Vries

©: Wolfgang Riederer

Sarah Lucas, "Scream Daddo", englischer Pavillon

©: Wolfgang Riederer
©: La Biennale di Venezia 2016

Lange Zeit war sie kein Grund Venedig zu besuchen, dann wurde die Biennale zur wichtigsten und schließlich gab es überhaupt keinen Grund mehr dorthin zu fahren. Oder vielleicht doch? Die Lagunenstadt verfügt nach wie vor über dieses unwirkliche Licht und die steinerne Pracht der Serenissima bildet immer noch die Projektionsfläche für die Narreteien und Utopien der Kunst. Diesmal war es schweineheiß, was den Vorteil hatte, dass sich die Besucher vor den Bildern nicht in die Quere kamen; das Arsenale war beispielsweise um vier Uhr nachmittags beinahe leer.

1895 zu Beginn hatte die Biennale schon 200.00 Besucher, 1897 250.00 und 1899 300.000 – ungefähr so viele wie heute. Wobei mit fortschreitender Globalisierung immer mehr Nationen die Gelegenheit bekamen teilzuehmen und ihren zuweilen fragwürdigen, künstlerischen Ehrgeiz über die ganze Stadt zu verteilen. Parallel dazu wurde, ausgehend von den berühmten Ausstellungen Harald Szeemanns, in dessen Tadition auch der diesjährige Chefkurator Okwui Enwezor steht, die Biennale thematisch und motivisch immer mehr zu einem Meta-Kunstwerk eigener Art: Diesmal setzt der nigerianische Kunstpapst weniger auf ein übergreifendes Thema als auf unterschiedliche Schichten dreier, einander durchdringender Ebenen von Filtern: "Garden of Disorder, Liveness: On Epic Duration und Reading Capital". Mit diesen Filtern soll der gegenwärtige Zustand der Dinge beschreiben werden und gleichzeitig die Erscheinung der Dinge ... alles klar?

Die Menge der Exponate und der Konzepte ergibt ein vielstimmiges Chaos, produziert eine Art politisches und ästhetisches "white noise", für dessen Bewältigung sich letzlich zwei Strategien anbieten: Man sucht den inhaltlichen Bezug zwischen Kunstwerk und dem diesjährigen Thema – ALL THE WORLD´S FUTURE – oder sammelt "für sich" Eindrücke frei nach Thomas von Aquins Dictum "Schön ist, was gefällt". Beispielsweise die meditativen, atmenden Arbeiten des greisen Malers Herman de Vries im niederländischen Pavillon unter dem Titel "to be all ways to be".

Es geht anscheinend um die Beziehung zwischen Kunst und Geld, die wieder für das Verhältnis zwischen Demokratie und Kapitalismus steht, oder auch für das Verhältnis zwischen Geld und Diskurs. Da passt es, dass in dem von Isaac Julien etwas pompös eingerichteten Auditorium Schauspieler Das Kapital von Marx quasi als Kunsttext lesen. Der Gottseibeiuns ist im Index auch als Künstler angeführt. Aber wann lesen sie? Und ist die Inszenierung des heiligen Wälzers nicht auch etwas vorsichtig? Warum nicht Hart/Negris Multitude oder Das Kapital als Literaturlesung, kein schlechter Gag, aber auch etwas vorsichtig. Warum nicht Hart/Negis Multitude , Naomi Klein`s No Logo oder Einschlägiges von Arundhati Roy? Das Auditorium ist praktisch leer. Sicherlich existiert auf irgendeinem Folder ein Programm, nur auf welchem? Und von den unzähligen auf der Biennale abgespielten Filmen werden hier nur wenige gezeigt. Eine thematische Focussierung auf All The Worlds Future wird durch diese Gleichgültigkeit gegenüber dem Publikum sabotiert, das Auditorium selbst zu einer Metapher des Überflusses, der doch kritisiert werden soll. So überzeugend die Arbeiten einer Altherrenriege bestehend aus Kluge, Huillet/Straub, Harun Farocki, Chris Markert oder Walker Evans auch sind, präsentiert werden sie geblockt, unsichtbar im Nebeneinander oder unauffindbar verstreut. Gut im Blick sind dagegen der monumentale Fotohochglanz von Gursky oder die Kopfüber-Kolosse in Öl von Baselitz – all the world`s future? Neben der Manier, denselben Künstler an unterschiedlichen Orten mehrmals zu präsentieren, ist es diese Unentschlossenheit, die aus der Ernsthaftigkeit Geschmäcklerei macht. Die schiere Menge des Gezeigten macht alles zum Teil einer Angebotskultur.

Immerhin hängen vom Eingang des Hauptpavillons Oscar Murillos schwarze Leinwandbahnen herab und statt "Biennale" ist über dem Portal "Blues, Blood, Bruise" zu lesen. Der Eingangsraum wird von Fabio Mauris mit seiner Klagemauer aus alten Koffern, der Installation The End und einer hoch hinauf zur Decke führenden "Feuerwehrleiter" bespielt. Aus einem angrenzenden Raum dringt das enervierende Krächzen, Husten, Röcheln von Boltanskis Film L´Homme qui lousse herüber. Ein Mann kotzt sich aus einem eingebundenen Kopf heraus die Jacke über und über mit Blut voll, eine unheimliche Vaudeville-Arbeit, die sich auch als vehementes Entree eignen würde. Hier allerdings beeinträchtigt der nervige Sound Mauris "stille" Skulptur... womöglich beabsichtigt? Völlig geglückt dagegen das Entree in die Arsenale, in dem die Neonschriften von Bruce Neuman etwa "Death-Love-Hate-Pleasur-Pain-LIfe" über hüfthohen "Nympheas", gebündelten Macheten des Algeriers Adel Abdessemed flackern. Von Abdessemed ist auch ein kleiner Teppich "Also sprach Allah" zu sehen, dessen Produktionsvideo einfach genial ist: Man sieht den Künstler, wie er mittels einer Decke von kräftigen Männern zu dem an den Plafond gehefteten Teppich hochgeschleudert wird und jeweils am Scheitelpunkt versucht, die Schriftzeichen anzubringen. Auch der nächste Saal nimmt gefangen mit Terry Adkins vier raumhohen Posaunen und dem gewaltigen Turm aus Trommeln, der vom gegenüberliegenden Ende durch das Phantasie-Geschütz von Pino Pascali. bedroht wird. Von Ibraham Mahamas stammt eine düstere architektonische Intervention aus Kohlesäcken, die entlang der Arsenale-Mauer drapiert sind; zuvor hat der Künstler auch schon den Arsenale-Hauptzugang versperrt.

Vor allem als Architekt sollte man den norwegischen Pavillon nicht versäumen, in dem die aus den USA stammende Camille Norment Rapture präsentiert. Der Eingang des ansonsten leeren Pavillons wird beherrscht von umherliegenden, teils fragmentierten Fensterrahmen, die den realen Rahmen nachgebaut sind. Ansonsten wird der Pavillon dominiert von seinen durch das Dach wachsenden Bäumen und mehreren von der Decke herab stehenden Leuchtkörpern zwischen denen die feinen Klänge einer Glasharmonika zu hören sind. Glassplitter unter und zwischen den weißen Rahmenstücken nehmen diese Klänge auf und verstärken sie trickreich – eine begehbare Skulptur, in der Harmonien und Dissonanzen der Musik, Bewegung und Stille des Tanzes ineinanderfallen.

Heimo Zobernigs Adaption des österreischischen Pavilllons, in dem er nur eine schwarze Decke einzieht und das Gebäude allen Schmucks entledigt, stellt geradezu eine herausfordernde Reduktion dar: zen-buddhistisch leer oder ein Korrektiv, ein Gegengewicht zu der überbordenden Bilderfülle der Biennale?

Ebenfalls eine geradezu gewalttätig stille Performance bietet Ernesto Ballesteros mit seinen Ultraleichten Modellflugzeuge im Arsenale: Ein Mann lässt ernsthaft mit immer den gleichen Bewegungen einen durchscheinenden, fast unsichtbaren Papierflieger los, um ihn, nachdem der seinen Kreis geschwebt hat, wieder aufzuheben und erneut loszuschicken. Ein scheinbar unschuldiger Akt, der gefilmt, als Endlosvideo das Thema der Biennale durchaus erhellen hätte können. Und gleich daneben gibt es die Installation My Epidemic von Liu Reynaud Dewar, die Kluges zu sagen hat und auf heiteren Videos nackt in dekorativen Sets tanzt.

Im deutschen Pavillon mit dem pompösen Motto "Goldene Fabrik des Denkens" muss sich der Besucher über schweißtreibende, hohe Treppen plagen, um zu verfolgen, wie sich der Fotograf und Kurator Florian Ebner mit dem Bedeutungsverlust des Mediums seinerseits abmüht. Auf dem Dach des Deutschen Pavillons soll es eine dem Blick unzugängliche Werkstatt für Bumerangs geben, drinnen liegt eine politisch korrekte Zeitungs-Medienarbeit von Tobias Zielony auf. Der Künstler hat die Schicksale von Emigranten in Deutschland zurück in die Zeitungen ihrer Heimatländer gespielt. Die besten Arbeiten stammen von Jsamina Metawaly/Philip Rizek. Ihr Videofilm Out on the Street, der sich an Godards Ausspruch orientiert, dass Filmemachen nichts damit zu tun hat, politische Filme zu machen, sondern politisch zu arbeiten, zeigt Interaktionen zwischen Chef und Arbeiter. Und richtig beklemmend ist ihre "ortspezifische Skulptur", zu der man tief auf die klappernden Fliesen eines Kairoer Dachs steigen musste, schließlich umgeben von nichts als kahlen Wänden, eine Grabkammer des ägyptischen Frühlings. Von Hito Steyer gab es dann noch Factory of the Son, ein Video, in dem es um Computerspiele bzw. die Darstellung einer Welt geht, in der alles in Sonnenschein verwandelt wird. Projiziert wird das Ganze in einem mit Liegestühlen aufgemotzten Raum auf blau fluoriszierenden Rasterlinien: kein Sonnenöl nötig.

Radikaler und sinnlicher gingen Joana Hadjthomas & Khalil Joreige in den Arsenalen mit dem Bildverlust durch ein Übermaß an Bildern um. Ihr Diary of a Photographer besteht aus Reihen an die Wand fixierter Bücher, auf deren Seiten (wenn man sie aufschneidet) die Motive ihrer nicht realisierten Bilder beschrieben werden.

Wie Filme und ihr Verhältnis zur Wirklichkeit wirklich sinnlich präsentiert werden kann, zeigt Maria Papadimitriou den Deutschen im griechische Pavillon. In Why Look at Animals erzählt ein alter Herr von seinem lebenslangen, wechselvollen Handel mit Fellen und Tierhäuten, einem Gewerbe, das sich mit den Moden und Zeitläuften ständig verändert hat. Er erzählt in seinem Geschäft, das neben der Leinwand komplett und detailgetreu im griechischen Pavillon nachgebaut worden ist: Der Mikrokosmos des Ladens wird zur Allegorie der griechischen Geschichte, zur Parabel über eine gegenwärtige Misere und zum Porträt eines vielleicht altmodischeren aber auch würdigeren Lebens.

Im polnischen Pavillon präsentiert CT Jasper ebenfalls ein "historisches" Video. Halka-Haiti ist die Verfilmung einer polnischen Oper mit Darstellern auf Haiti. Der Ausgangspunkt liegt im Jahr 1802, als Napoleon 20.000 Soldaten, darunter auch 5.000 polnische, nach Saint-Domingo (Haiti) sandte, um einen Sklavenaufstand zu unterdrücken. Die 1858 uraufgeführte Oper Halka wiederum gilt mit ihrer Geschichte aus Liebe, Verrat und Selbstmord, als die "nationaltypische" polnische Oper. Die an Herzog`s "Fitzcarraldo" erinnernde "absurde Dokumentation" setzt sich mit Kolonialismus, kulturellen Differenzen und allgemeinen menschlichen Empfindungen auseinander. Leider wird der Film völlig sinnlos auf einer extrem breiten Leinwand gezeigt, weshalb ihn viel weniger Besucher sehen können, als er verdiente.

Auch Kanada wartet mit einem altmodischen Laden auf, diesmal mit Gemischtwarenladen. Aber das Künstlertrio BGL meint es ironisch und hat die Bilder und Schriften auf den ansonsten täuschend echt wirkenden Packungen aus den Sechzigerjahren mit irritierender Unschärfe versehen. Der schwierig zu bespielende Pavillon bietet noch andere Räume – im Hinterzimmer etwa ein mit gebrauchten Pinseln, Farbtöpfen und Malutensilien vollgestelltes Atelier –, die aber den Witz des Eingangsraumes bei Weitem nicht erreichen.

Der französische Pavillon ist weit offen und mit grauem Schaumstoff in eine Wohnlandschaft verwandelt worden. Entspannt  sehen die hingefläzten Besucher drei Pinien zu, wie sie unter leisem Schnurren einen absurden Tanz vorführen: Natur Meets High-Tech, auch so eine Spielerei. Die Engländer agieren da mit Sarah Lucas vergleichsweise konventionell. Die Künstlerin hat den Pavillon in sattem Gelb gestrichen und ihre meist ebenfalls gelben Skulpturen hineingestellt. Es handelt sich dabei um Torsi ihrer Freunde – Unterleiber auf den Knien oder mit gekreuzten Beinen –, in deren Körperöffnungen häufig Zigaretten stecken.

... Man könnte noch lange so weitermachen. Neben den neunundzwanzig "historischen" Gebäuden in der Giardini finden sich in den Arsenalen weitere vierundzwanzig nationale Ausstellungen und über das Stadtgebiet sind ebenfalls neunundzwanzig Präsentationen von "Andorra" über die "Seychellen" bis "Zypern" verteilt. Die Biennale ist also (mindestens) zweifach gegliedert: Einmal durch den vom Chefkurator Okwui Enwezor konzipierten Zentralpavillon nebst großen Teilen in den Arsenalen; dann durch die nationalen Ausstellungen, die ihre eigenen Konzepte verfolgen. Und diesmal erweitern noch vier weitere, unter dem Titel Kollateral zusammengefasste Ausstellungen zusätzlich das ohnehin nicht mehr bewältigbare Angebot. Wahrscheinlich gibt es auch eine Art Statusgefälle von den Pavillons in der Giardini über die Arsenale bis zu jenen in der Stadt. Sich auf der Suche nach ihnen durch die dichten, scheinbar kollektiv gesteuerten Menschenmengen auf dem Markusplatz zu drängen, lohnt oft wegen der bespielten, exquisiten Räumlichkeiten. (My East Is Your West im Palazzo Benzon, The Union Of Fire And Water im Palazzo Barbaro, War Painting von Jenny Holzer im Museo Correr, oder Simon Derry`s nSecret Power (Neuseeland) in der Biblioteca Nazionale Marciana).

Seinen eigenen Pavillon hat der Oligarch Victor Pinchuk an der Uferpromenade zwischen Giardini und Arsenale aufstellen lassen. Er ist ganz aus Glas, um die neue Transparenz zu versinnbildlichen, und die Künstler, alle der Orangen Revolution verhaftet, sind nicht übel. Vor allem Anna Zvyagintseva mit ihrem gestrickten Käfig, der denen aus Eisengittern nachempfunden ist, in denen ansonsten die Angeklagten in Schauprozessen sitzen. Die Hitze ist allerdings unter der Sonneneinwirkung unerträglich. Aircondition gibt es keine und die Künstler, die vor ihren Bildschirmen Dienst machen, können einem leid tun. Die Architektur ist zweifellos durchsichtig, mag sinnträchtig sein, klimatisch ist sie aber "daneben".

Am Ende war es wie immer: Zuerst eine Abwehr aus Überforderung, dann die durch glückhafte Funde noch gesteigerte Schaugier, begleitet von gelegentlichem Überdruss, und schließlich das Glück der Erschöpfung oder der Thrill, das Wichtigste womöglich übersehen zu haben ... wie immer eben.

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