16/11/2018

Berlin
Alles bleibt besser

Emil Gruber zog es im Sommer 2018 wieder einmal nach Berlin.
Seine Eindrücke hielt er bild- und textdokumentarisch fest.
Teil 1

16/11/2018

Wer an 1968 und an Berlin denkt, wird auch an die Auseinandersetzungen zwischen der Bild-Zeitung und dem Studentenführer Rudi Dutschke denken. Wohl auch nur in Berlin möglich: Die ehemalige Kochstraße und die ehemalige Lindenstraße wurden umbenannt. Heute treffen dort wieder die alten Konkurrenten zusammen.

©: Emil Gruber

Im ehemaligen Westberlin sind stadtbildprägende Bauten mittlerweile in die Jahre gekommen. 1967 verlegte Axel Springer den Hauptsitz seines Verlags von Hamburg nach Berlin, nachdem in der damaligen Kochstraße an der Sektorengrenze ein monumentales goldenes Hochhaus dafür errichtet wurde.

©: Emil Gruber

Der S-Bahnhof Jannowitzbrücke war während der DDR-Zeit ein zugemauerter Geisterbahnhof im Osten, durch den die Westberliner U-Bahn ohne Halt passierte. Der gegen Ende der 1920er Jahre entstandene Bogenbau stammt von Hugo Röttcher, der bis zu seinem Tod 1942 auch am NS-Welthauptstadt-Germania-Wahnsinn mitplante.

©: Emil Gruber

In der Umgebung der Jannowitzbrücke findet zurzeit das Mediaspree-Projekt, eines der größten Investorenprojekte, seinen räumlichen Abschluss. Wie viel vom Fernsehturm am Alexanderplatz aus der Bahnhofsperspektive in ein paar Jahren noch zu sehen ist, bleibt fraglich.

©: Emil Gruber

"Kommen und gehen – das findet in dieser Millionenstadt rascher statt als in irgendeiner Stadt des Reichs; und in dieser parvenumäßig emporschießenden Stadt rascher als in irgendeiner anderen europäischen Hauptstadt. Man lebt schnell, die Eindrücke dieser noch im Werden begriffenen Metropole jagen einander, und die Bewohner, deren Gemüt noch etwas ungroßstädtisch Naives hat, reißen die Augen auf und lassen wie die Kinder ein Ding rasch stehen, um rasch ein neues zu betrachten."
Alfred Kerr 16.Juni 1895

Alles bleibt besser – frische alte Eindrücke aus Berlin Teil 1

Ende des 19. Jahrhunderts veröffentlichte der immer wieder neu zu entdeckende Schriftsteller und Journalist Alfred Kerr (1867 – 1948) regelmäßig seine Berliner Briefe in der der renommierten liberalen Breslauer Zeitung. Kerr, einer der einflussreichsten Kunstkritiker seiner Zeit, nahm sich ironisch und pointiert nie ein Blatt vor dem Mund, wenn er über Leben und Gesellschaft in der Stadt schrieb. Wie viele wichtige Literaten musste er 1933 ins Exil gehen, während seine Bücher im Feuer der Nationalsozialisten brannten.
Liest man in seinen damaligen Briefen (als Literaturhinweis dazu: Wo liegt Berlin. Briefe aus der Reichshauptstadt 1895–1900. Hrsg. Günther Rühle. Aufbau, Berlin 1997), entdeckt man vieles, das ein wenig adaptiert, auch sofort heute noch Gültigkeit haben könnte.

"Berlin ist der Ort, wo man noch Karriere machen kann. Es bleibt eine Parvenustadt, in der sich bei dem steten Zuzug eine feste, alteingesessene Gesellschaft noch kaum gebildet hat und wo darum selbst sozial höhere Schichten vor Abenteurern und Hochstaplerexistenzen wenig sicher sind."
Alfred Kerr 23.Juni 1895

Berlin wird immer besser bleiben, weil trotz aller Probleme, Konflikte, urbanem Wildwuchs und den mittlerweile unglaublich massiven Touristenströmen (oder vielleicht sogar deshalb), sich die Stadt permanent neu erfindet. Viele alte, ikonische Plätze sind längst der Gentrifizierung zum Opfer gefallen. Aber dann entsteht woanders plötzlich eine Oase des wilden, ungezähmten Lebens. Die „bessere Gesellschaft“ und die „Subkultur“ leben in fröhlicher Zwietracht Seite an Seite.

"So vieles im Leben ist ohnehin nur Komödienspiel, und wer dies Spiel mit all seinen großen und kleinen Künsten schon von Metier wegen kennt, der hat einen Pas vor den anderen voraus und überträgt es leicht von der Bühne her ins Leben."

Alfred Kerr 23.Juni 1895

Berlin besuchte ich erstmals Mitte der 1980er Jahre, als die Stadt noch geteilt war. Seither habe ich privat und beruflich, wenn ich alle Aufenthalte addiere, sicher mehrere Jahre dort verbracht. Berlin ist so etwas wie ein zweiter Lebensort für mich. Wenn ich länger weg bin, fehlt mir das Chaos, das Improvisationstalent und die sympathische Selbstüberzeugtheit der Berliner Szene.

Ein kleiner Kreis von Architekten, Offizieren, berufsfreien Gentlemen und Malern mit den entsprechenden Damen. Die große, plumpe Uhr auf der Terrasse zeigt drei Viertel eins. Wir haben allerlei erzählt und gehört. Allerlei Menschliches, das meist sogar wahr ist. Höchstens, daß einer die Abenteuer eines Bekannten als eignes Erlebnis auftischt; aber das merkt man gleich und grollt ihm nicht; das gehört dazu."
Alfred Kerr 14.Juli 1895

Jedes Leben schenkt die Möglichkeit, Fähigkeiten in sich zu entdecken. Mein größtes Talent ist das Spazierengehen. Berlin bietet mir seit jeher alle Voraussetzungen, dieses Talent regelmäßig zu fördern und weiterzuentwickeln. Statt einen Stock, wie Kerr ihn hatte, halte ich einen Fotoapparat in der Hand.

Der Berliner Westen – diese elegante Kleinstadt, in welcher alle Leute wohnen, die etwas können, etwas sind und etwas haben und sich dreimal soviel einbilden, als sie können, sind und haben."
Alfred Kerr 1.Januar 1895

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