07/01/2016

Baulücken bauen
Essay von Johannes Fiedler, Architekt und Stadtplaner.

Das florierende Infill-Development in Graz stößt an seine Grenzen.
Wer baut die Baulücken von morgen?

07/01/2016

Projekt 'das kai', Graz, Schwimmschulkai 4, von PURPUR. ARCHITEKTUR ZT-GmbH für stabulum Projektentwicklungs- und Errichtungsgesellschaft mbH, 2015.

©: fiedler.tornquist arch+urb

Den Ruf als schöne Stadt verdankt Graz vormodernen Raumtypen – dem mittelalterlichen Kern, den Vorstadtzeilen und den großstädtisch angelegten Quartieren des 19. Jahrhunderts – nicht nur ihrem bloßen Vorhandensein, sondern auch der Tatsache, dass sie mit großer Selbstverständlichkeit vom Alltag des 21. Jahrhunderts belebt sind, angereichert durch viele zeitgenössische Architekturen.

Diese glückliche Situation ist nicht zuletzt ein Produkt historischer Brüche. Nachdem die gründerzeitliche Form der Bau- und Raumproduktion mit dem Ersten Weltkrieg abrupt zum Erliegen gekommen war, blieben zahlreiche erschlossene und städtebaulich eindeutig definierte Bauplätze zurück. Der mangelnde Verwertungsdruck – ein Phänomen, das die österreichischen Städten bis zum Ende des kurzen 20. Jahrhunderts (Hobsbawm) in einer Dämmerstimmung verharren ließ, brachte es mit sich, dass auf diesen Grundstücken Obstgärten, Schwimmbäder oder Parkplätze angelegt wurden. In einem von institutionellen Bauträgern bewirtschafteten Wohnungsmarkt, der die Zukunft der Stadt in großen, begrünten Anlagen sah,  waren diese Baulücken und Restgrundstücke auch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wenig gefragt. Bis in die 1960er gelang es noch, da und dort auf einer Restfläche ein Hochhaus hineinzudrücken, doch die zunehmende Skepsis gegenüber dieser Form der Modernisierung schloss bald auch diese Option aus. Zuletzt waren es die unbegrenzten Möglichkeiten des Suburbanen, die sich mit der Automobilisierung der Gesellschaft auftaten und bewirkten, dass sich die Nachfrage nach städtischen Baugrundstücken in Grenzen hielt. War es doch im Bestand, in der vordefinierten Raumkonstellation nicht möglich, jene massiven Aufwertungen zu erzielen, die draußen durch Widmungen aus dem agrarischen Bestand, durch frei gestaltbare Typologien und Geometrien lockten.

Heute aber, hundert Jahre nach dem Abbruch der gründerzeitlichen Bauproduktion, ist auf den Baulücken und Restflächen rege Aktivität zu verzeichnen. Viele wurden in den letzten Jahren bereits hochwertig bebaut, wobei der Wert allemal immobilienwirtschaftlich, in vielen Fällen aber auch architektonisch, im Sinn einer kulturellen Aufwertung zu sehen ist. Dazu gehören zum Beispiel die Bauten von Innocad, etwa der Golden Nugget in der Grazbachgasse, die Bauten am Schwimmschulkai (PURPUR. ARCHITEKTUR) und in der Muchargasse (Bramberger Architects + Atelier Thomas Pucher) oder die vielversprechende Eckbebauung von Gangoly & Kristiner Architekten an der Humboldtstraße/Rosenberggürtel. Wie kam es zu dieser Blüte des Infill-Development?

Aus den ökonomischen Rahmenbedingungen heraus lässt sich einiges erklären – die Privatisierung des Wohnungsmarktes durch den Rückgang des geförderten Wohnbaus, das Wiederaufleben der Immobilie als Instrument der Alterssicherung (wie schon im 19. Jahrhundert), die Flucht des Kapitals in Immobilien (eine Folge der weltweiten Niedrigzinspolitik) und vieles mehr. Alle diese wirtschaftlichen Aspekte könnten aber nicht wirksam werden, gäbe es nicht eine Neubewertung des Lebens in der Stadt, eine Wertschätzung von Nähe, der räumlichen Nahebeziehung zu den Arbeitsplätzen der urban economy, zu den Angeboten jenes urbanen Konsums, in dem die Grenzen zwischen Kultur, Unterhaltung und berufsnotwendiger sozialer Interaktion verschwimmen. Dabei ist nicht die Dichte der Bebauung für die Bewohnerinnen und Bewohner der angestrebte Wert, sondern der Zugang zu den genannten Angeboten, möglichst ohne in ein Auto steigen zu müssen. Die Dichte der Bebauung ist die Konsequenz dieser Nachfrage, ein Produkt aus dem Grundstückspreis und dem Preis, den die Menschen, denen diese Form des urbanen Lebens wichtig ist, zu zahlen bereit sind – im Rahmen gehalten durch eine öffentliche Regulation, die sich am Bestand orientiert.

Kann es sein, dass heute die Baulinie, die Begrenzung durch die historische geometrische Definition nicht mehr prohibitiv, sondern vielmehr produktiv wirksam wird? Kann es sein, dass das Vorhandensein eines räumlichen Rahmens die wirtschaftliche Verwertung vielmehr unterstützt? Offensichtlich ist jedenfalls, dass die Nachfrage nach diesen Standorten ganz wesentlich mit den Qualitäten zusammenhängt, die diese Räume bieten: kleinteiliger Baubestand, der vor allem das Zufußgehen interessant macht – nicht nur funktionell, weil die Wege kurz sind, sondern weil es aufgrund der Vielfalt der Bebauung abwechslungsreich und inspirierend ist. Dazu kommt der visuelle Luxus der historischen Gebäude, die vielfältigen Lebensformen und urbanen Aktivitäten, die sich in Fenstern und Sockelzonen abbilden, und der dadurch entstehende Fluss an Passanten, der in einer immer wieder staunend machenden Weise gleichzeitig Anonymität und Zugehörigkeit herzustellen in der Lage ist. Diese Qualitäten sind nicht zuletzt Produkt jener Baulinien und städtebaulichen Definitionen, einer geometrischen Übereinkunft, zu der eine vergangene Generation gelangt ist.

Tatsächlich bringt es Vorteile, sich auf die von einem abwesenden Dritten etablierte Norm zu einigen als auf jene eines aktuell Beteiligten, noch dazu, wenn diese unbestrittene kulturelle und ökologische Vorteile bietet. Man muss in einer solchen Situation auch nicht diskutieren, ob die Fassade vielleicht ein paar Grad in Richtung Südwesten verschwenkt werden sollte, nicht darüber, ob das Gebäude groß oder klein sein sollte, wenn diese Dinge durch die Logik des Bestandes bereits gegeben sind. Während elementare Fragen der Geometrie im Konfliktfeld zwischen Bauträgern, Behörden, NutzerInnen und PlanerInnen also vorab geklärt sind, verbleiben viele Bereiche, in denen sich Auseinandersetzungen, Differenzierungen und letztlich einzigartige Qualitäten entwickeln können.

Es scheint, als würde erst das Vorhandensein eines geteilten Bezugsrahmens die Diskussion über Qualitäten ermöglichen. Wie könnte man über Mode sprechen, wenn sie sich nicht auf die spezifische Geometrie menschlicher Körper bezöge? Wie über Autos, wenn es nicht klar wäre, dass sie im Rahmen der räumlichen Bedingungen des Straßenverkehrs – Spurbreiten, Geschwindigkeiten – funktionieren müssten? Die räumlichen Rahmenbedingungen von Architekturobjekten sind – freilich genauso wenig wie jene des Straßenverkehrs – naturgegeben. Sie sind kulturelle Konventionen, die zu jeder Zeit zu erarbeiten und zu verhandeln sind. Bei den Baulücken und Restflächen, die durch das Unterbleiben der Bebauung nach dem Ersten Weltkrieg entstanden sind, ist uns das Ergebnis einfach zugefallen. Diese Glücksfälle gehen nun langsam aus. Wer baut die Baulücken von morgen?

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