28/01/2019

Eugen Gross: Von der Angst, den Steg zwìschen Bewährung und Erneuerung zu betreten.

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Der Artikel von Eugen Gross wurde erstmals im ISG Magazin Ausgabe 04/2018 veröffentlicht und dankenswerterweise dem Portal GAT zur Zweitveröffentlichung überlassen.

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28/01/2019

Terrassenhaussiedlung, struktureller Aufbau

©: Archiv Eugen Gross
©: ISG - Internationales Städteforum Graz

Einem Artikel In einer Schweizer Zeitung war vor kurzem zu entnehmen: „Herdenschutzhund beißt Wanderer“. Er berichtet von einem Vorfall im Wandergebiet des Wallis, der mich an eine ähnliche Begebenheit erinnerte, welche ich bei einem Urlaub in der Toscana vor zwei Jahren erlebte. Ich wurde beim Befahren einer „Weißen Straße“, die als eine der staubigen Kiesstraßen die reizvolle hügelige Landschaft durchzieht, von einer alten Frau vor den „Wilden Hunden“ gewarnt. Sie begleiten die großen Schafherden, um sie vor Bedrohungen, besonders Wölfen, zu schützen.

Dabei stellt sich die Frage, welche Qualität ARCHITEKTUR haben muss, um erhalten und geschützt zu werden.
Unleugbar ist das Konzept der Moderne, beginnend in den 20er-Jahren, an die neue Errungenschaft der Demokratie gebunden. Ein Geist der Offenheit, die nationalen Grenzen überschreitend, hat Fuß gefasst und sich trotz aller Krisen ausgebreitet. Deren Überwindung im Politischen, Gesellschaftlichen wie Kulturellen hat eine Bereicherung mit sich gebracht, wie die Bewältigung jeder Krankheit eine Reifung in sich trägt. Diese kann sich im Bewusstsein vollziehen oder auch eine Änderung von Handlungen bewirken, wenn diese auf eine Verbesserung zielen.
Die so genannte „Klassische Moderne“ in der Architektur wird vom Bewusstseinsstand her wieder hochgeschätzt, da sie programmatischen Charakter einer Befreiung in sich trägt, muss aber heute hinsichtlich ihres sozialen Anspruchs neu interpretiert werden. Sie hob den solitären Charakter hervor, vernachlässigte aber überwiegend den urbanen Kontext. Es nimmt nicht Wunder, dass die „Spätmoderne“ gerade diesen städtebaulichen Kontext hervorhob. Es begann mit den programmatischen Tagungen der CIAM „Congrés Internationaux d‘ Architecture Moderne“ 1956 in Dubrovnik, Kroatien, und 1959 in Otterloo, Niederlande, bei denen das soziale Erfordernis einer Einbindung von ARCHITEKTUR in einen historisch vorgegebenen Rahmen gefordert wurde. Wir hatten die Gelegenheit, mit Prof. Hubert Hoffmann von der Technischen Hochschule Graz in die Vorbereitung und Präsentation seines Kongressbeitrages eingebunden zu sein und im Zuge der Teilnahme die dem Geist der damaligen Postkriegszeit entspringenden Gedanken namhafter Architekten, darunter Kenzo Tange, Ignazio Gardella, Aldo van Eyck, kennenzulernen. Das zu dieser Zeit mit den Partnern Friedrich Groß-Rannsbach, Hermann Pichler und Werner Hollomey von mir gegründete Büro der WERKGRUPPE GRAZ hat in der Folge diesen urbanen Kontext in das Zentrum seiner Projekte gestellt.
Als größtes Projekt des Teams – ergänzt um die gleichzeitig an der Hochschule wirkenden Assistenten Walter Laggner und Peter Trummer – ist die Terrassenhaussiedlung Graz-St.Peter entstanden. Sie stellte ein Experimentalprojekt dar, das vom Bundesministerium für Bauten und Technik zum Demonstrativbauvorhaben erklärt wurde. Diese Bestimmung besagte, dass neben der Planung auch eine Forschergruppe bestellt wurde, die Verbesserungen in Vorschlag brachte und den Realisierungsprozess begleitete. Ebenso wurde das Projekt außer vom Land Steiermark auch von der Republik Österreich gefördert.
Nach 40-jähriger Nutzung durch die Wohnungseigentümer, die im Sinne der Partizipation auch in den Planungsprozess eingebunden wurden, hat sich eine Projektgruppe unter der Bezeichnung SONTE gebildet, die eine „Smarte Modernisierung“ anstrebt. Sie wird vom Österreichischen Klima- und Energiefonds gefördert und von der Österreichischen Forschungsförderungsgesellschaft organisatorisch betreut.
Die Zielvorgabe besteht darin, im Sinne baukultureller Verantwortung den Lebenszyklus der Anlage, die die größte selbstverwaltete Großwohnanlage Österreichs ist, zu verdoppeln, d.h. auf 80 Jahre zu erweitern. Das stellt im Hinblick auf die sozialen, technischen und rechtlichen Bedingungen, unter denen die Anlage mit 528 Wohnungen geplant wurde, eine große Herausforderung dar. Vordringlich ist die thermische Verbesserung des Fassadenaufbaues, die sich an heutigen Richtlinien unter Aufrechterhaltung des Erscheinungsbildes als Sichtbetonbau orientiert, zu bewerkstelligen.
Das Lebenszyklus-Konzept, aus dem biologischen, technischen wie gesellschaftlichen Diskurs als Einbeziehung der Zeit in autonom ablaufende Vorgänge abgeleitet, sollte für die ARCHITEKTUR besonders gelten. Ist sie doch darauf bedacht, die baulichen Standards einem angestrebten Lebenszyklus anzupassen, zugleich aber Erneuerungen zuzulassen, die eine immer schnellere gesellschaftliche Veränderung mit sich bringt.

Die Betrachtung gesellschaftlicher Vorgänge als Lebenszyklen hat eine lange Tradition in den ostasiatischen Kulturen, besonders in Japan als Naturverständnis im Shintoismus. Bauten wie Schreine oder Tempel unterliegen dieser Veränderung, indem sie nach Ablauf kulturell definierter Zyklen abgetragen und erneuert werden. Das berühmteste Beispiel ist der Ise-Schrein in Kyoto als höchstes Heiligtum, das jedes Jahr einer rituellen Erneuerung unterzogen wird. Die Architekten des „Metabolismus“ der 60er-Jahre haben diese lebendige Tradition aufgegriffen und konzeptionell ihren Projekten zugrunde gelegt. Der „Strukturalismus“ mit seiner Differenzierung der Bauelemente als Primär- und Sekundärstruktur hat diesen beiden Strukturen eine zyklische Rolle zugeteilt: die Primärstruktur als Dauer, die Sekundärstruktur in ihrer zeitbezogenen Veränderungsqualität. TIME PATTERN, wie ich sie nenne – zurückgehend auf Studien einer Erneuerung der Stadt Beirut nach dem Bürgerkrieg in den 80er- Jahren – haben die Zeitrhythmen vorzugeben, nach denen Veränderungen vorgenommen werden sollen.
Die aktuelle Befassung mit dem Problem der Bewährung und Erneuerung der architektonischen Nachkriegsmoderne sollte diesen grundlegenden Aspekt beachten, der die notwendigen Erneuerungen im Wechselverhältnis zur Bewahrung sieht. Damit wird zugleich den auf Bewährung gerichteten Lebenszyklen, wenn sie die Kontinuität einer urbanen Gestaltung betonen, ihre Aufmerksamkeit geschenkt. Neben den Kommunen und privaten Bauherrn ist auch die Denkmalschutzbehörde gefordert, das Bewusstsein für die Erhaltung und Erneuerung des Kulturgutes im Sinne einer differenzierten Bewertung zu stärken. Das Architekturzentrum Wien stellte sich mit der Ausstellung SOS BRUTALISMUS, Rettet die Betonmonster, der Aufgabe, die Sichtbetonarchitektur der 60er-Jahre kritisch zu beleuchten und aufzuzeigen, wie gefährdet gerade diese Bauten sind.
Dabei wird erinnert, wie die Mutlosigkeit des Betretens des von mir genannten schmalen Steges zwischen Bewährung und Erneuerung in Österreich und europaweit den Umgang mit charaktervollen Bauten bestimmt. Ohne konkret auf einzelne Bauten einzugehen wird deutlich, dass es weitestgehend um das Erkennen von Lebenszyklen geht, die rechtzeitige Erhaltungsarbeiten erfordern und diese Bauten gerade im Kontext des öffentlichen Raumes als längerwährenden Lebenszyklus sehen. Die Erhaltung lebendiger Dorfkulturen in Österreich könnte ein Beispiel sein, wie es die Gemeinde Aigen im Ennstal zeigt, bei der die von Volker Giencke 1985 geplante r. k. Kirche als spirituelles und gesellschaftliches Zentrum in den öffentlichen Raum des Ortes mit Platz, Grünraum, Wirtshaus und periodischem Budenmarkt eingebunden ist.
Als anzuerkennendes Beispiel einer Erneuerung bei Erhaltung des charakteristischen kristallinen Erscheinungsbildes als Weißbetonbau im räumlichen Zusammenhang des Sonnenfelsplatzes in Graz, der zukunfts- weisend zum „shared space“ umgestaltet wurde, will ich das Studentenhaus mit Mensa der Österreichischen Studentenförderungsstiftung in der Leechgasse / Schubertstraße nennen. Es ist ein positives Beispiel, wie ein Bauherr verantwortlich mit dem 60-jährigen Bestand umgeht, zugleich aber die funktionellen Erfordernisse einer inneren Neugliederung zu erfüllen in der Lage ist. Die originale Sichtbetonfassade in Weißbeton und das gegenläufige Treppenhaus wurden vor kurzem unter Denkmalschutz gestellt.

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