06/12/2018

Alles nur Fassade?

Rezension von Marion Starzacher zum Bestimmungsbuch für moderne Architektur von Turit Fröbe

Turit Fröbe
Alles nur Fassade?
Das Bestimmungsbuch für moderne Architektur

DuMont Buchverlag
Köln, Sept. 2018
175 Seiten,
500 farbige Abbildungen
ISBN 978-3-8321-9947-0

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06/12/2018

Die Autorin Turit Fröbe weist mit ihrem Buch auf die – wie sie es selbst beschreibt – lebendige Alltagsarchitektur hin und wie wenig Aufmerksamkeit dieser beim Vorbeigehen geschenkt wird. Sie gibt dem Stadtspaziergang mit ihrem Bestimmungsbuch für moderne Architektur eine neue Bedeutung, indem sie Alltagsarchitektur für die Betrachterinnen und Betrachter lebendig und einordenbar erscheinen lässt. Das Buch ist in einer leicht verständlichen Sprache, inklusive Erklärungen der Fachbegriffe, verfasst. Zudem ist es sehr übersichtlich gegliedert und formal ansprechend gestaltet. Die Autorin beeindruckt mit ihrem Fachwissen und mit ihrer Sensibilität für moderne Architektur, die sie in sehr pointierter Sprache zum Ausdruck bringt.
Es ist eine Anleitung zum "genauen Hinschauen", zum "Fokussieren" der Details, so wird der tägliche Spaziergang, der Weg zur Arbeit oder in die Schule nicht mehr alltäglich und mittels Bestimmungsbuch neu interpretierbar. Eines der Ziele ist, dass nach gewisser Zeit und der intensiven Nutzung des Bestimmungsbuches das Buch überflüssig wird, da das neue Wissen sich in den Köpfen der Benutzenden manifestiert hat und das Erkennen, Einordnungen und Datieren automatisch passiert.

Im Vorwort geht die Autorin auf ihre Motivation, warum sie dieses Bestimmungsbuch verfasst hat, ein: Ein Studierender hat ihre Art Architektur zu lesen, als Architektur für andere erlebbar und lebendig machend, beschrieben. Somit gibt Turit Fröbe den Architekturinteressierten ein Instrument, mit dem diese selbst sich der Architektur nähern können.
Die Fenster als Augen der Architektur geben Aufschluss über Baualter und Epoche. Für die Bestimmung und Einordnung von Architektur eignen sie sich, so Turit Fröbe, erst seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts. Waagrechte und senkrechte Gliederungen und Dekor in der Fassadengestaltung, die bislang Parameter für eine erfolgreiche Datierung von Gebäuden gewesen sind, werden seit Beginn des 20. Jahrhunderts von glatten, wenig strukturierten und dekorierten Fassaden abgelöst, sodass Fenster seitdem eine bedeutendere Rolle in der Datierung einnehmen.
Eine Einführung in Materialien, Fertigungsmethoden wie auch Gestaltung und Vorlieben gibt die Autorin im Kapitel "Das Fenster in der modernen Architektur". Typische Fallen, wie zum Beispiel die "Neo-Falle" wird in der Übungsanleitung zur Bestimmung und Datierung thematisiert. (1)
Fotos von unterschiedlichsten Fensterformaten und Glasfassaden samt Datumsangaben geben einen sehr übersichtlichen Überblick für eine erste Einordnung. Die Fotos sind keine typischen Architekturfotos, die das Sujet ins optimale Licht rücken, sondern sie zeigen sehr charmant den Bestand – das Objekt – wie es im Stadtraum platziert ist. Diese Darstellung erhöht den Wiedererkennwert und zeigt eine Realität, die Architekturfotografien oft vermissen lassen. Turit Fröbe verwendet in ihrer Vermittlung eine klare, aussagekräftige Sprache und spricht aus diesem Grund alle an. Es gibt Informationen zur "verhassten Gründerzeit" und zu den wichtigsten Vorbildern für die Entwicklung moderner Architektur, sowie ein Verweis auf die Publikationen von Paul Mebes und Camillo Sitte.
Im Hauptteil der Publikation wird die Entwicklung, beziehungsweise der Ausgangspunkt der modernen Architektur, der Jugendstil und die Reformarchitektur thematisiert. Jede Epoche ist als eigenes Kapitel formuliert und analog aufgebaut, sodass die Veränderungen und Weiterentwicklungen zur folgenden Epoche vergleichbar werden, Parameter dafür sind: Fenster, Material, Form und Ikone.
Bezeichnend für Turit Fröbe ist, dass sie einen Schritt weitergeht, als traditionelle Bestimmungsbücher, denn sie fügt dem Offensichtlichen die Ikone hinzu: Eine Ikone ist ein Bauwerk, das wegweisend ist und mit Traditionen bricht sowie ein must know für Architekturstudierende, Architekturaffine und Architekturschaffende wie Architekturrezipierende und Architekturforschende darstellt. Beispiele, die im Buch genannt sind, sind die AEG-Turbinenhalle von Peter Behrens (markiert den neuen Bautypus Industriebau) oder das Internationale Congress Centrum Berlin von Ursulina Schüler-Witte und Ralf Schüler. Im Verlauf der Zeit werden weitere Parameter wie Siedlungen und DDR hinzugefügt, auch ein Ausflug in die High-Tech-Architektur als Antwort auf die Postmoderne. Ab den 1930ern gibt es durch den Nationalsozialismus eine Rückkehr zum Neoklassiszismus in der Repräsentationsarchitektur und in die Formensprache des Heimatschutzes und der Konservativen Moderne im Siedlungsbau, die einen Bruch in der modernen Architektur durch den Rückgriff darstellt und erst in den 1950ern ist wieder eine Weiterentwicklung spürbar. Mit den Neo-Stilen endet dieses Bestimmungsbuch, wobei Turit Fröbe nicht die "bekannten" Neo-Stile wie Neo-Gotik, Neo-Renaissance, usw. nennt, sondern die Rekonstruktionen im Zeichen des Wiederaufbaus der Nachkriegsmoderne beschreibt, die, wenn man die Rekonstruktion des Braunschweiger Stadtschlosses betrachtet, bis in die Gegenwart reichen.
Ein Glossar mit Erklärungen der wichtigsten Fachtermini und ein Einblick in Fachliteratur runden das Bestimmungsbuch für moderne Architektur ab.

Absolut empfehlenswert ist Alles nur Fassade? für alle, die Architektur lieben und einen Blick für das Alltägliche haben. Vorkenntnisse sind für den Gebrauch des Buches keine notwendig. Erschienen ist das Buch im DuMont Verlag und wird als Allround-Reiseführer und perfekter Begleiter für jeden Stadtspaziergang empfohlen.

Turit Fröbe
(dem Klappentext entnommen)
Turit Fröbe studierte Kunstgeschichte und Klassische Archäologie in Marburg sowie Europäische Urbanistik in Weimar. Sie wurde an der Universität Hamburg promoviert und hat als wissenschaftliche Mitarbeiterin und Gastprofessorin an der Universität der Künste Berlin gelehrt. Mit ihrer STADTDENKEREI einwickelt sie unkonventionelle, spielerische Strategien zur Baukulturvermittlung und stiftet zu einem "liebevollen Blick" auf die gebaute Umgebung an. Wie überzeugend ihr das gelingt, zeigt ihr Bestseller Die Kunst der Bausünde (2013), mit dem sie auf humorvolle Weise viele Menschen zum Umdenken bewegt und die "Bausünde" rehabilitiert hat.

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(1) Neo-Stil bezeichnet eine Baustilwiederholung, wozu es in der Publikation ein eigenes Kapitel gibt (ab Seite 158).

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