07/01/2020

Jeden ersten Dienstag im Monat veröffentlicht GAT in der Kolumne Aber Hallo! Anmerkungen von Karin Tschavgova zu aktuellen Themen von Architektur und gebauter Umwelt.

.

07/01/2020
©: Karin Tschavgova

Auf ein Neues (Wort) – wieder und wieder

Danke, lieber Anselm Wagner dafür, dass Du mir Anlass für eine positive Rückschau auf 2019 gibst. Ich möchte natur- , nein, jahreszeitengemäß natürlich auch, wie alle, ein Resümee ziehen, nur habe ich mir vorgenommen, meinen Kritikern und Kritikerinnen keinen weiteren Anlass dafür zu geben, mich als „die Tschavgova, puh, die ist ja soo anstrengend“ zu charakterisieren und mit dieser Einschätzung jemanden, der neu in die Stadt gekommen ist, gleich einmal zu zeigen, wer wie einzuordnen und zu nehmen ist hierorts.
Du, Anselm, hast mir eine richtige Freude bereitet, obwohl Dir das beim Schreiben Deines klugen Leserbriefs an die Gratiszeitung der Grazer sicher nicht bewusst und auch nicht beabsichtigt war. Wie auch, denn du konntest ja auch gar nicht wissen, dass ich die deutliche Stimme von Professoren der Grazer Architekturfakultät schmerzlich vermisse in den letzten Jahren, wenn es um Themen geht, bei denen sie Experten sein sollten.
Ich muss relativieren: Aglaée Degros, Vorständin des Instituts für Städtebau, meldet sich als Stadtplanungsexpertin immer wieder öffentlich zu Wort und zeigt damit, dass ihr die Entwicklung ihrer Wahlheimat Graz ein großes Anliegen ist.
Doch zurück zum Leserbrief, in dem es um eine erneute Studie zur Nachverdichtung durch einen flächendeckenden zweigeschoßigen Dächerausbau der Gründerzeitblöcke in den Grazer Gründerzeitvierteln ging. Ich habe diesen Unsinn schon damals, als er in Form einer Dissertation am Institut für Gebäudelehre betreut und gutgeheißen wurde, kritisiert, weil er von Unkenntnis oder totalem Unverständnis der gründerzeitlichen Stadtentwicklung und der unglaublichen Qualität der Bauordnung von 1867 zeugt. Eine studentische Projektarbeit, die mit einer zwar materialwütigen, jedoch inhaltsleeren Ausstellung im Forum Stadtpark ihr Ende fand, hat damals dem ganzen noch eine Krone aufgesetzt. 
Nun: dass diese Chose jetzt mit der Vergabe einer Studie für die Möglichkeiten der Aufstockung in Holz nochmals durch Landesrat Seitinger mit öffentlichem Geld aufgewärmt wird, ist eine Sache, die ärgerlich ist, weil es, wie Du aufgelistet hast, mannigfache Gründe gibt, ein solches Ansinnen abzulehnen. Einen noch zur Ergänzung: in Österreich gilt Privateigentum als höchstes Gut, über das man sich nicht einfach hinwegsetzen kann.
Worum es mir aber vor allem geht, ist, dass Du mit dieser Wortmeldung als Vorstand des Instituts für Architekturtheorie laut und deutlich eine Fachmeinung eingebracht hast, wie man sie sich in vielen Bereichen der Grazer Stadtplanung und des Bauens von Experten der Architekturfakultät erwarten würde.
Sollte sich das Institut für Wohnbau nicht auch wissenschaftlich, in der Forschung, die als Zweig dort gar nicht angeführt wird, mit aktuellen Tendenzen des Wohnungs- und Siedlungsbaus in Graz befassen und seine Mittelmäßigkeit lauthals kritisieren?
Und sollte das Institut für Gebäudelehre seine Leere im Bereich „Forschung“ nicht füllen mit der Erkundung gebäude(lehre-)spezifischer Qualitäten der Bauordnungen, die diese immer noch gültige, einmalige Qualität der Bauten der sogenannten Hohen Gründerzeit in Graz erst hervorbringen konnte? Natürlich könnte auch ein öffentlich getätigtes Statement zur Lage die derzeit auf der Website zu findenden „News“ ersetzen, die in dem Fall wirklich privat sind, wenn sie von einem Award für ein Einfamilienhaus des Architekturbüros Gangoly/Kristiner Kunde geben.
Der öffentliche Einsatz von Hubert Hoffmann für ein besseres Graz hat seinerzeit eine Autobahn quer durch Graz verhindert, dem Plabutschtunnel zum Durchbruch verholfen und einen Bürgermeister das Amt gekostet. Dazu gäbe es keinen Anlass. Zu kritischer Auseinandersetzung mit der Entwicklung unserer Stadt, zu beherzt geführtem konstruktivem Diskurs schon. Das Jahr ist jung. Vorerst daher nur Dank an die engagierte Stadtplanungsexpertin und den Architekturtheoretiker.

Ida Pirstinger

Der offene Architekturdiskurs ist mir sehr wichtig und ich halte ihn in Graz für verbesserungswürdig. Persönliche Befindlichkeiten stehen hier oft über differenziertem, wertschätzendem Austausch, wissenschaftlicher Evidenz und Respekt. Was nicht gehört bzw. zur Kenntnis genommen werden will, wird totgeredet oder -geschwiegen. Das teilreflektierte Halbwissen der Lautesten bringt die Klügsten zum Schweigen. Wenn die Klügeren aber immer nachgeben, werden am Ende die Dummen das Sagen haben.
Auch ich würde mir die Architekturfakultät bzw. deren einzelne Lehrstühle als stärkere, präsentere Stimme im lokalen und überregionalen Architekturdiskurs wünschen. Die Euphorie über den Leserbrief von Prof. Anselm Wagner ist für mich jedoch nicht nachvollziehbar. Er erscheint in seinen Äußerungen wenig fundiert, trägt also eher nicht zu einem sachlichen Diskurs bei. Meine Reaktion darauf war im „Grazer“ vom 12. Jänner zu lesen.
Im Anschluss das etwas ausführlichere Manuskript dazu.
Wer sich selbst ein Bild von meiner auch hier auf GAT schon mehrfach abschätzig kommentierten Dissertation machen möchte:
Gründerzeitstadt 2.1: die Nachverdichtung von Gründerzeitquartieren; ein Modell zur inneren Stadterweiterung
Verlag der TU Graz, ISBN: 9783851253672.
Wer für Forschung kein Geld ausgeben möchte - im Sinne einer guten wissenschaftlichen Praxis ist sie auch als Open Source frei verfügbar:
http://diglib.tugraz.at/gruenderzeitstadt-21-2014
Hier meine Antwort auf Prof. Anselm Wagner im "Grazer"
„In den vergangenen Wochen wurden Ergebnisse meiner Forschung mehrfach im „Grazer“ zitiert und haben eine Kontroverse ausgelöst. Nun halte ich es für erforderlich, einige Fakten klarzustellen.
Meine Dissertation „Gründerzeitstadt 2.1“ von 2013 beschäftigt sich mich mit der Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen die Aufstockung von Gründerzeitblöcken ein bestandsgerechtes Mittel zur urbanen Aufwertung sein könnte. Der Ansatz orientiert sich am Prinzip der Stadt als soziales Gemeinwesen, richtet sich gegen Zersiedelung und hat Ressourcenschonung und die Bewahrung des Grünraums zum Ziel. Die Vorteile hoher Dichte für eine lebenswerte Urbanität werden ebenso wie die dafür erforderlichen Qualitätskriterien untersucht. Die Dachlandschaft wird dabei völlig neu gedacht, fernab gewinnmaximierender Dichtebestrebungen. Eine direkte Umsetzbarkeit wird nirgendwo behauptet.
Freilich könnten eine andere Fragestellung, andere Methoden oder Grundprämissen zu abweichenden Ergebnissen führen, mit persönlicher Meinungsäußerung hat das jedoch nichts zu tun. Es ist eine der Grundaufgaben der Wissenschaft, Denkanstöße zu geben und Themen auch jenseits des derzeit Machbaren zu bearbeiten, also auch außerhalb des aktuellen rechtlichen Rahmens.
Eine bewahrende Haltung einzunehmen ist legitim, ebenso legitim ist es, wissenschaftlich Potentiale der Nachverdichtung zu untersuchen. Die Entscheidung über die Schutzwürdigkeit trifft der Gesetzgeber, wünschenswerterweise auf Basis des Ergebnisses eines offenen Diskurses und nicht eines Denkverbots. Nicht legitim erscheint mir, eine evidenzbasierte, methodische, wissenschaftliche Arbeit als „Meinung einer ehemaligen Dissertantin“ herabzuwürdigen, wie das Prof. Wagner getan hat, denn das ist nicht nur ein entbehrlicher Beitrag zur Wissenschaftsskepsis, sondern auch eine generelle Geringschätzung von DissertantInnen, GutachterInnen, BetreuerInnen und letztlich der Doctoral School Architektur und der TU Graz.
An den vom Institut für Holzbau und Landesrat Seitinger präsentierten Projekten bin ich nicht beteiligt. Meine Forschungsergebnisse wurden als Argumentationshilfe angeführt, ich wurde jedoch seitens der Proponenten oder Medien nie eingebunden.
DI Dr. Ida Pirstinger, Graz“

So. 19/01/2020 3:28 Permalink
anonym

Antwort auf von Ida Pirstinger

Liebe Ida,
Dein unterschwellig und natürlich allgemein (wie hierorts üblich) vorgebrachter und adressierter Vorwurf - ich zitiere: "Das teilreflektierte Halbwissen der Lautesten bringt die Klügsten zum Schweigen. Wenn die Klügeren aber immer nachgeben, werden am Ende die Dummen das Sagen haben." trifft auf mich nicht zu und trifft mich deshalb auch nicht, und zwar aus zwei Gründen. Erstens trete ich, das wird auch dir bekannt sein, immer/mein Leben lang für den offenen Dialog und Diskurs ein, sogar für eine Streitkultur mit Betonung auf Kultur. Zweitens kann ich sagen, dass ich mir gerade zum Thema der GRAZER Gründerzeit und ihren besten Hervorbringungen, die du in deiner Dissertation exemplarisch im Herz-Jesu-Viertel untersucht hast, durch jahrzehntelange Beschäftigung damit ein wirklich fundiertes Wissen erarbeitet habe (auch wenn ich keine Dissertation über die Möglichkeit oder Unmöglichkeit der Verdichtung durch Aufstockung dazu verfasste) Meine auf Wissen und Theorie basierende Meinung (reicht, finde ich) zur Conclusio deiner Dissertation besteht darin, dass ich sie schlicht als falsch einschätze, und schon vor Jahren, als ich sie erstmals las, zum Schluss kam, dass du das Wesen, vor allem die stadträumliche und städtebauliche Besonderheit der Grazer Gründerzeitbauten und -blöcke (in der Bauordnung von 1856 schon in Grundzügen angedeutet, in der von 1867 explizit ausgeführt) zur Zeit ihrer höchsten Entfaltung nicht oder zumindest nicht ausreichend betrachtet hast. Eine offene, öffentliche Diskussion darüber zu führen, wäre durchaus in meinem Sinn. Nur bitte nicht weiter unterschwellige Behauptungen, dass die, die deine wissenschaftliche Conclusio nicht teilen, "als Lauteste teilreflektiertes Halbwissen" verbreiten. Das ist unter der Gürtellinie und der ehemaligen Dissertantin nicht angemessen.

Mo. 20/01/2020 11:58 Permalink
Anonymous

Aber auch Ihnen, liebe Frau DI Tschavgova, gebührt ein großer Dank für Ihren Mut und Ihre Courage, auch öffentlich eine kritische Meinung zu äußern und - wie in diesem Fall - die Qualität der gründerzeitlichen Stadtentwicklung mit den Blockrandbauten, den "noch grossteils unverbauten" Innenhöfen und den Vorgärten zum Thema zu machen.
Besten Dank von vielen mitdenkenden und vorausschauenden Bürgerinnen und Bürgern der Stadt Graz

Di. 07/01/2020 11:51 Permalink
Netzwerktreffen
16. + 17.11.2023
 
GAT+