27/02/2024

Als Freud die Pforten zum Unbewussten öffnete, brachte er das Licht aus den dunkelsten Winkeln zu Bewusstsein und die strengen Moralvorstellungen seiner Zeit nachhaltig ins Wanken. Die Sexualität, das Triebhafte als das gesellschaftlich Verdrängte rückten ins Zentrum der Analyse menschlicher Handlungsmotivation.

Die Kolumne zeitenweise von Wolfgang Oeggl erscheint jeden 4. Dienstag im Monat.

27/02/2024

o. T.

©: Severin Hirsch

Der menschliche Körper, unendliche Weiten. Wir schreiben das Jahr 2024. Wir dringen in Galaxien vor, die noch nie ein Mensch zuvor gesehen hat. Der menschliche Körper, ein Ort unendlicher politischer Zäsuren. Wir dringen in Bereiche ein, die dem öffentlichen Zugriff niemals hätten gewahrt werden dürfen. Wir schreiben immer noch das Jahr 2024.

Da liegt er nun, der menschliche Körper, zerklüftet von Furchen des Politischen wie ein bestellter Acker, durchdrungen von den fremden Samen der Kultur, die wie Eindringlinge in uns sprießen und uns unsere ureigenste Natur fremd machen, den eigenen Körper, die biologische Körperlichkeit zu einem Fremdkörper werden lassen. Die zahlreichen Zäsuren, die im Laufe der Menschheitsgeschichte an uns, in uns wirken, sind ein Spiegelbild der menschlichen Entkoppelung von der Natur, eines verinnerlichten Außen wie eines veräußerlichten Innen – die gewaltsame Herrschaft über das Unzähmbare, die Unterjochung des Wilden, des Irrationalen.

Die Beherrschung des Triebhaften, die Schubhaft für die Begierden, ist Teil des Rationalisierungsprozesses und Antrieb für die fortschreitende Ökonomisierung im/als Aufschub der Triebe. Schritt für Schritt rückt der Körper immer mehr ins Zentrum politischer – das heißt auch disziplinärer – Gewalt, bis er sich letztendlich als normierendes/normiertes Subjekt/Objekt des Handlungsvollzugs konstituiert und zugleich als (gesellschaftliche) Moral(vorstellung) im Subjekt etabliert.

Einerseits ist diese Unterdrückung des Triebhaften, die sich in erster Linie auf den Sexual- und den Aggressionstrieb bezieht und die Sigmund Freud als Verdrängung (ins Unbewusste) bezeichnete, die originäre Perversion im Sinne einer Verkehrung des Natürlichen, der Denaturierung des Menschen. Da sie aber andererseits ein ebenso unerlässlicher wie notwendiger Teil der Gesellschaft, des menschlichen Zusammenlebens ist, wird sie auch ein Teil der kulturellen und politischen Praxis oder, um es in Foucault’scher Terminologie auszudrücken, der Disziplinar- und Biomacht.

In unserer triebhaften Körperlichkeit sind wir Subjekte, deren Handlungen durch gesellschaftliche Moralvorstellungen und juridische Normen diszipliniert, limitiert und exekutiert werden und betrachten uns gleichzeitig nach diesen Vorstellungen in unseren Handlungen als Objekt. In diesem Sinne werden das subjektive Verlangen und der eigene Körper als Teil von allgemeinen Moralvorstellungen und ethischen Normen objektiviert.

Ethische Normen sind in Zusammenhang mit der Sexualität als gesetzliche Verbote etwa Inzest, Pädophilie oder Sodomie betreffend zu verstehen, wie es auch Verbote gegen andere Formen körperlicher (und verbaler) Gewalt gibt, während die „allgemeinen“ Moralvorstellungen auf gesellschaftlichen Konventionen beruhen, was als sittlich oder moralisch verwerflich zu gelten habe, auch wenn der gesetzliche Rahmen davon nicht berührt wird. Der wohl entscheidendste Faktor im individuellen Umgang mit dem Triebhaften ist die (familiäre) Sozialisierung, ist sie doch letzten Endes verantwortlich dafür, was von uns als „normal“ empfunden wird. „Die Problematisierung der sexuellen Verhaltensweisen […] wird zum Problem des Subjekts: als Subjekt des Begehrens, dessen Wahrheit nur von ihm selbst in seinem Inneren erkundet werden kann: als Subjekt des Rechts, dessen zurechenbare Handlungen sich entsprechend den Beziehungen, die es zu sich selbst hat, in gute und schlechte unterteilen und als solche definieren.“ (Michel Foucault, Die Geständnisse des Fleisches. Sexualität und Wahrheit 4. Berlin 2019. S. 480.)

Die sexuelle Revolution der späten 60-er Jahre zielte – ebenso wie die Anfänge der Freikörperkultur um 1900 – gegen die gesellschaftlichen Allgemeinvorstellungen von Moral, beide Bewegungen waren auch stark von den Theorien der Freiheit, der Befreiung des Individuums aus den Zwängen überholter Moralvorstellungen beeinflusst.

Nach der Kopernikanischen Wende im 16./17. Jahrhundert und der Evolutionstheorie im 19. Jahrhundert war die Entdeckung des Unterbewussten als maßgeblicher Teil der menschlichen Psyche laut Freud die „dritte Kränkung der Menschheit.“ Nachdem wir den Platz im Zentrum des Universums verloren, uns in die biologische Ahnengalerie des Tierreichs einordnen mussten, verloren wir nun auch noch unser Bewusstsein an die Herrschaft des Unbewussten.

Die Erkenntnisse der Psychoanalyse zur Jahrhundertwende, die Einblicke in die verborgenen Geheimnisse unseres Heims, die Heimlichkeiten waren Grund genug, zumindest einen Teil des unterdrückten und verdrängten Begehrens aus den vorherrschenden Moralvorstellungen zu befreien – den eigenen Körper als Natürlichkeit, als Natur anzuerkennen und der gewaltsamen moralischen Unterdrückung der Gesellschaft zu entreißen, war der Ausgangspunkt für die FKK-Bewegung. Der Befreiung des Körpers folgte im Zuge der Kulturrevolutionen die Befreiung der Sexualität – und in weiterer Folge die des Geschlechts – aus dem moralischen Zwangskorsett.

Es ist moralisch weder verwerflich, einen Körper noch Begierden zu haben, auch wenn sich diese gegen die gesellschaftlichen Moralvorstellungen richten. Das schlechte Gewissen, das Sündhafte sind Relikte der (katholischen) Kirche. Problematisch wird es erst, wenn wir gegen Gesetze verstoßen, weil wir uns aufgrund unserer moralischen Sozialisierung nicht in einem gesetzlichen Normbereich bewegen und/oder pathologischen Zuständen immer wieder anheimfallen – wie etwa in Fällen von Kindesmissbrauch oder Gewalt in der Familie.

Die Erforschung der eigenen Sexualität ist ein wichtiger Teil in der menschlichen Entwicklung. Wie bei allen Entwicklungsprozessen ist dabei die Phantasie, das gesamte Kreativpotential beteiligt, das auch für die Entwicklung des Selbstbildes im/als Verhältnis zum Anderen, in der/als Verantwortung für den Anderen mitbestimmend ist. Und wie bei all diesen Prozessen hat auch die Industrie ein großes Interesse, diese kreativen Kräfte für sich zu beanspruchen und zu vereinnahmen.

Deshalb ist auch rund um die Sexualität eine Industrie entstanden, die nicht auf bloße Triebbefriedigung abzielt, sondern die sich entwickelnden Triebe beschlagnahmt und die Wünsche, den „Gebrauch der Lüste“ gezielt lenkt und die Objekte zur Triebbefriedigung überhaupt erst erschafft. Das Ich, das sich in Bezugnahme zum Anderen/zum Außen entwerfen und entwickeln sollte, wird durch das unendliche Universum der Objekte bestimmt (vgl. zeitenweise-06). Dadurch verändert sich nicht nur das Verhältnis zur Sexualität, sondern auch zum eigenen Körper. Die Welt der Körperlichkeit wird zur Welt der Objekte – jenseits jeglicher Natürlichkeit und fernab der Entdeckung neuer Galaxien und Welten.

Mein Kopf ist eine Krypta. Wir können in unserer Phantasie Welten, Universen, Galaxien erschaffen. Wir können uns selbst erschaffen – ein Kapitel ohne Kapital, ohne Zugriff von Kontrollmächten, ohne moralische Zwänge.

Unsere Phantasie ist die letzte Bastion außerhalb der Ökonomisierung, das Chaos der symbolischen Formen, der Dorn im Auge des Kapitalismus. Eben deshalb versucht die kapitalisierende Ordnungsmacht, die Herrschaft über unser Unbewusste an sich zu reißen, zu bemächtigen, sich unserer Wünsche, Bedürfnisse, Begierden zu bemächtigen und sie zu steuern und kontrollieren. Die Gefahr lauert in der Dunkelheit, die Möglichkeit des systemischen und systematischen Widerspruchs.

Wer Zeit hat zu denken, einen Reflexionsraum zu erschaffen, sich aus seiner Phantasie ein Selbstbild zu entwickeln, eine Eigenständigkeit ohne moralische Führung, wer keine Spuren im Außerhalb hinterlässt, kann leicht und unbemerkt zur Gefahr werden. In ihrer schamlosen Amoralität will die Biomacht in die dunkelsten Ecken unserer Häuser vordringen und der verborgensten Bereiche des Lebens habhaft werden, während gleichzeitig ein neu aufkeimender Konservativismus althergebrachte Wert- und Moralvorstellungen verbreitet.

Die Wiederauferstehung des moralischen Viktorianismus gefährdet nicht nur den Weg des befreiten Individuums und die demokratischen Werte, sondern stört auch empfindlich den Bezug zu unseren Körpern, unserer Körperlichkeit, unserer Natürlichkeit und unserer Sexualität. Und selbst wenn Freud der Sexualität als unbewusste Führerin des Bewusstseins vermutlich zu große Bedeutung zugeschrieben hat, kann die Befriedigung des Sexualtriebes den Aggressionstrieb, die Gewalt(ausbrüche) befrieden.   

„Der Sex ist das spekulativste, das idealste, das innerlichste Element in einem Sexualitätsdispositiv, das die Macht in ihren Zugriffen auf die Körper, ihre Materialität, ihre Kräfte, ihre Energien, ihre Empfindungen, ihre Lüste organisiert. […] Jeder Mensch soll nämlich durch den vom Sexualitätsdispositiv fixierten imaginären Punkt Zugang zu seiner Selbsterkennung haben (weil er zugleich das verborgene Element und das sinnproduzierende Prinzip ist), zur Totalität seines Körpers (weil er ein wirklicher und bedrohter Teil davon ist und überdies sein Ganzes symbolisch darstellt), zu seiner Identität (weil er an die Kraft eines Triebes die Einzigartigkeit einer Geschichte knüpft). […] Der faustische Pakt, dessen Versuchung uns das Sexualitätsdispositiv in Herz geschrieben hat, lautet: tausche dein ganzes Leben gegen Sex, gegen die Wahrheit und die Souveränität des Sexes.“ (Michel Foucault, Sexualität und Wahrheit. Erster Band. Der Wille zum Wissen. Frankfurt am Main 1991. S. 185f.)   

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