03/04/2024

Bezugnehmend auf die laufenden Veranstaltungen Stadtdialoge in Graz beleuchtet der international tätige Landschaftsarchitekt und Stadtplaner Andreas Kipar, wie urbane Räume mit naturbasierten Lösungen ihre „Wirtlichkeit“ wieder gewinnen können – ein Paradigmenwechsel durch Stadtökologie. In der etymologischen Bedeutung von einladend, gastlich, freundlich, benutzt der Autor die adjektivische Bezeichnung „wirtlich" und meint damit die „vielfältig vernetzte neue Stadt, die durch ein Netz grün/blauer Infrastrukturen verknüpft ist... eine Landschaft, die den urbanen Raum im positiven Sinne wieder erobert." 

03/04/2024

Masterplan: Grüne Stadt Bozen, Phase 2, ©LAND

 

Parco dello Sport Al Maglio, Lugano, ©LAND

 

Manifesto: Verbania Capitale della Natura 2030, ©LAND

 

Masterplan Cagliari, ©LAND

 

Masterplan Lecco, ©LAND

 

Die Mehrheit der Menschen lebt in Städten, Tendenz steigend. Faktoren wie Arbeit, Wohnraum und soziale Beziehungen prägen die Lebensqualität. Natur spielte über lange Zeit bestenfalls eine untergeordnete Rolle. Wenn wir an die Entwicklung der europäischen Stadtformen der Moderne denken, haben wir eine Trennung nach Funktionen erlebt: hier das Wohnviertel, dort der Industrievorort, hier das Verkehrs- und Vergnügungszentrum, dort die Einkaufsmeile. Und für die Beziehung zur natürlichen Umwelt kam gelegentlich ein Park dazu, aber oft nicht mehr als ein Grünstreifen am Rande baumloser Verkehrsachsen. Wer mehr wollte, setzte sich ins Auto und fuhr aufs Land, das sich seinerseits in einen Servicebetrieb für entnervte Städter verformte, bevor es von der unkontrolliert wachsenden Stadt ganz eingeholt wurde. 

Bereits Mitte der 1960er-Jahre analysierte ein kritischer Geist wie Alexander Mitscherlich: „Die hochgradig integrierte alte Stadt hat sich funktionell entmischt. Die Unwirtlichkeit, die sich über diese neuen Stadtregionen ausbreitet, ist niederdrückend.“

Sechzig Jahre danach hält die Verstädterung unserer Lebensräume an. Zugleich wächst eine Gegenbewegung zur funktionellen Entmischung. Der Klimawandel und der wachsende Druck von Umweltfaktoren haben verstärkt die Suche nach lebenswerter Wirtlichkeit ausgelöst. Erfahrungen wie die Pandemie haben sie noch verstärkt. Eine Suche, die sich nicht nostalgisch an der hochgradig integrierten alten Stadt orientiert, sondern an der vielfältig vernetzten neuen Stadt. Eine neue Stadt, die sich nicht abstrakt aus futuristischen Planungsfantasien entwickeln lässt, sondern konkrete historische Wurzeln aufgreift und sie dadurch zukunftsfähig macht. Wurzeln, die verhindern, dass urbane Gürtel und Randbereiche sich ghettoisieren oder verwahrlosen.

 

Die Rolle des Quartiers

Zum Beispiel die Rolle des Quartiers. Großstädte wie Mailand, Paris oder London fördern verstärkt die Stadtteilbildung im Sinne der sogenannten 15-Minuten-Stadt. Wien hat hier sogar einen historischen Vorsprung. Quartiere, die sich ausgehend von der Prämisse der Nachhaltigkeit durch eine Mischnutzung aus Wohnen und Produzieren, aus Arbeit, Handel und Kultur entwickeln. Sie bilden kleine Zentren, vermitteln für die Demokratie wichtige Identitäten, indem sie die Repräsentation historischer, politischer und gesellschaftlicher Einrichtungen mit dem Erlebnis von Freiräumen und mit sozialen Treffpunkten verbinden. Sie werden durch ein Netz grün/blauer Infrastrukturen verknüpft, das sanfte Mobilität favorisiert und die Stadt auch in der City aus unbebauten Flächen neu entdecken lässt. So wie es vorbildlich der „Masterplan Gehen“ in Graz entwickelt.

Lang galt das Primat der Stadt, die urbane Grenzen sprengt und sich in Metropolzonen mit anderen Städten verzahnt. Jetzt tritt die umgekehrte Entwicklung ein: Es ist die Landschaft, die den urbanen Raum im positiven Sinn „erobert“ und ihn mit Natur durchmischt wie Hefe den Brotteig. Wenn wir jetzt die Stadt „umbauen“, haben wir nicht mehr das rein funktionale Bild der alten Stadt vor Augen, sondern einen Hybrid aus Bau-, Frei- und Naturraum.

 

Neue urbane Landschaften

Die Suche nach neuen urbanen Landschaften führt zu einer neuen Erzählung der Stadt, einer mit Ethik durchdrungenen neuen Ästhetik. Der durch Stadtökologie vermittelte Paradigmenwechsel spiegelt sich im morphologischen Erscheinungsbild der urbanen Räume und wird die Zukunft grundlegend beeinflussen. Begrünte Fassaden, Nischenparks, aufgerissene Verkehrsflächen und neue Zugänge zu Naturräumen werden das kommende Stadtbild charakterisieren.

Denn die neuen urbanen Landschaften sind auf Zukunft ausgerichtet, in ihnen können wir besser produzieren, sie sind flexiblel, sie sind resilient, sie sind klimaadaptiv. Sie bilden Raum für Wildnis in der Stadt und Raum für noch offene Aneignungen – Raum auch für Empathie, soziale Identität und Gemeinschaft. Die neuen urbanen Landschaften gehen vom Menschen und seinen Bedürfnissen aus. Um unter den Bedingungen des Klimawandels Lebensqualität zu entwickeln, benötigen wir Natur mit ihrer vegetativen Kraft, brauchen gesunde Luft, gesundes Wasser, gesunde Erde. Die alten Verhältnisse müssen aufgebrochen werden, wie die verbauten und versiegelten Böden. 

Lange hat man nicht nur die Stadtentwicklung, sondern vor allem die hieraus resultierenden Probleme Raum-, Stadt- und Verkehrsplanern überlassen. Heute sind mehr denn je auch der Landschaftsarchitekt und die Zivilgesellschaft gefragt. Denn nur über die Natur und ihren „Freiräumen“ können wir Stadträume als urbane Landschaften neu denken, die vom Menschen und seinen Bedürfnissen ausgehen. Urbane, grün implantierte Landschaften greifen die Klimaanpassung auf, nutzen Wasser produktiv, kühlen, schaffen Biodiversität. Vor allem: Diese ökosystemischen Dienstleistungen sind messbar und können in Zukunftsplanung eingehen.

 

Grün als soziales Bindungsmittel 

Lebensqualität lässt sich in urbanen Landschaften herstellen, wenn sie empathisch und nachhaltig mit Grün als Bindemittel gestaltet werden. Ein Rollenwechsel steht an: Der natürliche, der unbebaute Raum tritt jetzt als Stichwortgeber und gleichwertiger Hauptdarsteller neben dem bebauten Raum auf die Bühne.

Als Planende stehen wir in einer besonderen Verantwortung, die Lebenswelten von heute zu beobachten, ihre Genese zu verstehen und der Vision einer Gesellschaft, in der Mensch und Natur miteinander versöhnt leben, eine Zukunft zu geben. Naturbasierte Lösungen sind gerade in der Energiekrise der Schlüssel zur Wiederherstellung von Ökosystemen. Sie bieten gleichzeitig weitere Vorteile, wie Klimaregulierung und soziales Wohlergehen, die dank digital- und datengesteuerter Planungsansätze gemessen und entworfen werden können. 

Die Veränderungen können jedoch nicht gegen, sondern nur mit Menschen gestaltet werden. Klimaschutz und naturbasierte Lösungen müssen in den Städten „eine Heimat bekommen“, wie es der Wuppertaler Oberbürgermeister Uwe Schneidewind einmal formuliert hat, damit Bürgerinnen und Bürger sich mit ihnen identifizieren können. So werden wir in einem ethisch-demokratischen Prozess wieder Teil der Natur, die wir zu lange als etwas Fremdes verachtet hatten – ein epochaler Umbruch. Und urbane Räume können ihre Wirtlichkeit wieder gewinnen.


_____
Autor Andreas Kipar, Landschaftsarchitekt & Stadtplaner, Geschäftsführender Gesellschafter des Beratungs- und Planungsunternehmen LAND mit Niederlassungen in Düsseldorf, Lugano, Mailand, Montreal und Wien. 
_____
Diesen Text begleiten ausgewählte Projekte und Masterpläne von LAND, die als urbane Landschaften gelesen werden können.

Terminempfehlungen

Netzwerktreffen
16. + 17.11.2023
 
GAT+