18/12/2023

Die studierte Architektin und Publizistin Ursula Baus ist eine analytische Denkerin. Ihre Ausdrucksweise ist messerscharf und ebenso direkt, nicht nur im Gespräch. Reflexion und klares Denken kennzeichnen ihre präzise formulierten Texte, die sie nicht nur für das von ihr mitgegründete Onlinefachmedium Marlowes verfasst. Dort nimmt man kein Blatt vor den Mund, hier kann man falten-bezogene Texte lesen, die mit feiner Klinge aussprechen, was andere sich längst nicht mehr zu sagen trauen. Wir haben Ursula Baus anlässlich des GAT-Netzwerktreffens zum Gespräch getroffen.

18/12/2023

Ursula Baus (Mitte) gründete das Online-Medium Marlowes – Magazin für Architektur und Stadt gemeinsam mit Claudia Siegele und Christian Holl. © Wilfried Dechau

[CM] In Ihrem Online-Medium Marlowes – Magazin für Architektur und Stadt haben Sie sich mit ihren beiden Mitstreiter:innen der Architektur- und Stadtkritik verschrieben. Sie widmen sich sehr engagiert dem Diskurs und dem Disput. Wieso ist den Architekturmedien der Mut zum Disput mehr und mehr abhandengekommen?

[UB] Die Architekturpublizistik der Verlagshäuser kennzeichnen schon immer dominante Abhängigkeiten. Viele Geldquellen für klassische Architekturzeitschriften sind versiegt, weil diese ins Netz abgewandert sind. Der Druck, Anzeigenkundeninteressen entsprechen zu müssen, hat dem Mut zum Disput die Kraft genommen. Dazu kommt auch noch der Frust der Redakteur:innen und Autor:innen, ihre Leserschaft nicht mehr zu erreichen.

Wie kann man aber nun die interessierte Öffentlichkeit dennoch erreichen?

Die Themen an die Öffentlichkeit zu tragen, impliziert zweierlei Perspektiven: von jenen, die Themen öffentlich machen möchten und von der Öffentlichkeit, die diese Themen aufgreifen muss. Mit der fortschreitenden Digitalisierung hat sich diese Öffentlichkeit seit den späten Neunzigerjahren auch strukturell stark verändert, sie ist nicht mehr als homogen und architekturinteressiert zu analysieren – und sie verschwindet in dieser Homogenität schlichtweg immer mehr. Das muss uns beschäftigen. Wir müssen im digitalen Kommunikationsraum Öffentlichkeiten neu erschließen. Das funktioniert auch mit Social-Media-Kanälen, deren Nutzer haben allerdings eher Selbstdarstellungsintentionen und sind nicht unbedingt informationsaffin. Ein konkretes und spezifisches Interesse im Sinne einer Zielgruppenprofilierung kann man also nicht mehr ausmachen.

In Social-Media-Kanälen wie X, Facebook oder LinkedIn finden sich aber doch immer wieder kritische Beiträge im Bereich Politik oder Architektur, die auf entsprechende weiterführende Websites und Texte verlinken, und so zu interessanten Inhalten überleiten.

Diese Kanäle nützen wir natürlich auch, um unsere Themen in eine breitere Öffentlichkeit zu bringen. Das funktioniert durchaus. Dort sind aber im Wesentlichen nur Gleichdenkende und nicht jene, die man eigentlich erreichen möchte.

Wen möchte Marlowes denn erreichen?

Unsere Kernleserschaft ist ein Fachpublikum, das auch die Randbereiche Politik und Wirtschaft umfasst. Und weil wir sehr stark politisch argumentieren, gibt es mehr und mehr Leser in politischen Entscheidungskreisen. Das sind etwa gewählte politische Amtsträger in den Hochbauämtern und entscheidende Stellen der Städte oder Kommunen. Ihnen geben wir mit unseren Beiträgen letztlich auch «Futter» zur fachlichen Argumentation mit der Bürgerschaft.

„Eine lebendige Architekturszene bedarf der fundierten, öffentlichen Auseinandersetzung“, steht auf Ihrer Website über Marlowes redaktionelle Ausrichtung zu lesen. Gelingt es Ihnen, diese Auseinandersetzung und den öffentlichen Diskurs nicht nur anzustoßen, sondern auch aufrechtzuerhalten?

Ja durchaus, und zwar auf zwei Ebenen: Zum einen wird oft auf uns als Quelle verwiesen und in der Folge weiter damit argumentiert, zum anderen werden wir sogar gebeten, uns etwa für andere Medien mit bestimmten Themen genauer weiter zu befassen. Auch wird die Auseinandersetzung mit unseren kritischen Magazininhalten manchmal zum Auslöser dafür, dass man uns etwa zu Vorträgen einlädt oder sogar mit einem Lehrauftrag betraut.

Wie kamen Sie auf den Namen Marlowes? Welche Bedeutung hat er? Einen passenden Namen für ein Medium zu finden ist gar nicht so einfach, wie war das bei Ihnen?

Das war auch für uns außerordentlich schwer. Gegründet hatten wir uns als Partnerschaftsgesellschaft unter dem Namen „frei04-publizistik“, das ist natürlich kein passender Name für ein Medium – aber so etwas hatten wir damals noch gar nicht geplant. Als wir uns dann entschieden hatten, ein Online-Medium zu gründen, sollte dieses unabhängig von unserer Partnerschaft funktionieren. Also machten wir uns auf die Suche nach einem Namen. Es sollte eine URL-taugliche Bezeichnung dessen, was wir machen wollten, sein. Was mit Architektur, dem Kürzel Arch und so weiter zu tun hatte, war entweder schon besetzt oder gefiel uns nicht. Und wir wollten keine zweiteilige URL. Wir dachten an uns als Schreibende, Mehrdeutigkeiten gefielen uns auch, so stand auf einmal der Begriff Marlowes im Raum, der durchaus passende Hintergründe mitbringt: Nämlich das Alter Ego von Shakespeare namens Christopher Marlowe, weiters gibt es die Hauptfigur in Joseph Conrads „Herz der Finsternis“, Charles Marlow und dann kennt man auch den von Humphrey Bogart gespielten Detektiv Philip Marlowe. Wir dachten, prima, Neugierde, Schreiberei und Mehrdeutigkeit, das passt super und die Webadresse marlowes.de war ebenfalls verfügbar. Es hat aber letztlich doch ein halbes Jahr gedauert, bis wir so weit waren.

Der Name klingt auch sehr international.

Ja. Eine Präsenz im Ausland hängt aber auch davon ab, wie sich unser Korrespondentennetz ausweitet. Wenn diese nomadenhaften Autor:innen irgendwann auch mal in den USA, Kanada oder Asien präsent sind, dann entwickelt sich das ja vielleicht. Richtig vorantreiben kann man das allerdings nicht.

Würden Sie dann auch auf Zweisprachigkeit ergänzen? Das erwarten sich ja vermehrt junge Leser:innen.

Im Prinzip ja. Wir sind hingegen dafür bekannt, dass unsere Texte mit deutscher Sprachspezifik geschrieben sind. Das heißt der sprachliche Anspruch ist außerordentlich hoch und angesichts dessen funktioniert es nicht, alles einfach ins Englische zu übertragen. Uns ist sprachliche und sprachgebundene Raffinesse mit Erkenntniswert wichtig, einiges ginge in schlechten Übersetzungen verloren. Vielleicht könnte sich das ändern, wenn man mit der Künstlichen Intelligenz vorankommt. Allerdings bräuchten wir dann die Kontrollen zweisprachiger hochqualifizierter Autoren, damit sichergestellt ist, dass die künstliche Intelligenz auch dem entspricht, was wir ausdrücken wollen.

Angesichts notwendiger Querfinanzierungen und Ihrer Unabhängigkeit kann man sagen, dass es Marlowes ohne Ihr persönliches Engagement nicht gäbe?

Ja, so ist es.

Sie sagten, es schreiben mittlerweile über 100 Autor:innen für Marlowes – sind diese auch alle bereit, ohne Honorar zu arbeiten?

Ja, das sind sie dankenswerterweise. Weil sie bei uns eine redaktionelle Freiheit haben, die es andernorts kaum noch gibt. Davon profitieren wir natürlich. All jenen, die sich für die Sache engagieren, wollen wir eine Plattform geben. Allerdings überlegen wir im kommenden Jahr, Marlowes von unserer Partnerschaftsgesellschaft, also von uns Herausgeber:innen, weiter unabhängig zu machen und das Medium im Sinne der Gemeinnützigkeit neu aufzusetzen. Nur, damit allein hat man natürlich noch keinen einzigen Euro verdient. Es stellt sich also die Frage, wer einem gemeinnützigen Verein ein Basiskapital zur Verfügung stellen könnte, vor allem zur Honorierung von Autor:innen und Fotograf:innen. Ein größeres Unterfangen – wer weiß, ob uns das 2024 gelingt.

Die Gemeinnützigkeit eines Vereins würde es ermöglichen, etwa Mitgliedsbeiträge oder Abos für bestimmte Premiuminhalte einzuheben – wäre das denkbar?

Ungern. Eigentlich möchten wir den Zugriff zum Portal nicht einschränken. Es ist unsere Intention, Themen an die große Öffentlichkeit zu tragen. Das soll nicht davon abhängig sein, ob jemand dafür zahlt. Aber wie es geht, kann ich auch nicht sagen. Und wenn es eines Tages nicht mehr funktioniert, dann muss man das wohl akzeptieren. Aber mit unseren Mischkalkulationen gelingt es uns bislang – wir werden sehen, wie es sich weiterentwickelt. Das ist schwer zu ermessen. Im Moment scheint die Lage des Bauwesens eher dramatisch. Als wir noch im Verlag waren, hieß es immer, wenn es der Bauwirtschaft gut geht, gibt es keine Anzeigen und es geht der Publizistik schlecht. Wenn es ihr schlecht geht, sucht sie den Weg an die Öffentlichkeit. Unternehmen haben aber mittlerweile ihre eigenen Social-Media-Kanäle oder Medien, und tragen ihre Botschaften selbst an die Öffentlichkeit. Ich mache mir also wenig Hoffnung auf eine Unterstützung durch die Bauwirtschaft.

Wie haben Sie es zu so vielen Autor:innen gebracht?

Die „reading few“, die als Autor:innen in welchen Bereichen auch immer, aktiv sind, kennen einander meist und somit auch uns. In der Regel kommen sie selbst mit Vorschlägen auf uns zu, wenn sie bestimmte Themen bearbeiten wollen. Und über die Zeit haben wir auch eine Reihe von Korrespondent:innen gefunden, etwa in Hamburg, Berlin oder München. Nur Ostdeutschland ist noch ein wenig mager bestückt. Autor:innen besuchen Veranstaltungen oder Ausstellungen für uns als veröffentlichendes Medium. So kommen die Autor:innen zu ihren Pressevergünstigungen oder zu Katalogexemplaren und wir zu Inhalten – eine passable Ergänzung.

Sie sagten, Ihre Autor:innen seien völlig frei in den Inhalten. Welche Kriterien müssen die Texte dabei erfüllen?

Wie jede Redaktion stehen natürlich auch wir in ständigem Austausch mit unseren Autor:innen. Dass uns jemand unaufgefordert einen Text schickt, kommt eher selten vor. Themen überlegt man in der Regel.

Weshalb verzichten Sie auf die Möglichkeit, Leserkommentare zuzulassen?

So spontan, wie man das etwa aus der Tagespresse kennt, wollen wir das nicht. Das muss moderiert werden, und das ist uns zu zeitaufwendig. Einerseits reizt zwar die Unmittelbarkeit spontaner Reaktionen, andererseits kennt man aber das belanglose Geschreibsel beispielsweise in Baunetz-Kommentaren. Wir stellen daher eine vernünftige Leserreaktion als PDF unter den zugehörigen Beitrag und verweisen in unserem Newsletter auf diesen Kommentar.

Wie definieren Sie „Qualitätspublizistik bzw. qualitätvolle Architekturkritik“?

Zuerst sollte man überlegen, gehört Architektur in den Bereich der Kunst, zur Technik oder ist sie ein Wirtschaftsprodukt? Sie gehört überall dazu, genau das macht sie ja auch interessant. Das heißt aber auch, dass man in der Architekturkritik, wenn es um das Beurteilen geht, nicht in diesen dezisionistischen Argumentationsketten bleiben kann. Es gibt nicht wahr oder falsch. So hat die Beurteilung von Kunst einen eher deliberativen als einen unbedingt konsensbedingten, dennoch in der Auseinandersetzung verhafteten Charakter. Das heißt, ein Urteil entsteht aus einem fiktiven Dialog heraus, den man als Autor:in mit fiktiven Nutzer:innen, Gesellschaftsgruppen auch mit in die Zukunft projizierten, veränderten Maßstäben überlegen muss. Es gibt auch die Vorstellung, dass gerade Architektur etwa über intrinsische Werte verfügen würde. Das sehe ich nicht so. Ich halte auch nichts von anthropologischen Konstanten in der Architekturbewertung. Denn eine Bewertung entspringt immer einer jeweiligen Gegenwart und Perspektive. Alles andere ist Fiktion. Und man steht mit diesem Urteil selbst in der Kritik. Das heißt jeder kann auch sagen „Du spinnst, was argumentierst Du denn da, wovon gehst Du aus? Was ist denn an diesem Ort passiert?“ Die Publikation bietet jedem eine Anregung, sich anders zu positionieren. Und das ist gut. Das ist schließlich der Sinn der Sache.

Die Unabhängigkeit der Medien hat für Sie eine besondere Bedeutung. Die allgemeine internationale demokratiepolitische Entwicklung scheint allerdings die Pressefreiheit gehörig einzuschränken. Werden kritische Medien überleben?

Ich bin zuversichtlich, dass wir es auch weiterhin schaffen werden. Wenn es gelingt, diese aktuellen Themen so aufzubereiten, dass junge Leser:innen damit erreicht werden, kann es funktionieren. Wir planen etwa noch vor Weihnachten, das Thema der bewachten Räume aufzunehmen. In Deutschland lassen sich radikalisierte Gruppen nicht mehr in diesem klassischen Links-rechts-Schema verorten, sie müssen neu analysiert werden. Es geht um die Veränderung unserer Gesellschaft, unserer öffentlichen sowie unserer halbprivaten Räume.

Sie haben Kunstgeschichte, Philosophie, Archäologie und Architektur studiert. Was hat Sie an diesen Themen interessiert, woher kam Ihr Interesse für Architektur und für Architekturpublizistik bzw. Architekturkritik?

Ich komme aus der Philosophie und der Kunstgeschichte. Über das Architekturstudium habe ich dann auch den Zugang zur Architekturkritik gefunden. Ich denke, zwei Semester Grundkurs in Philosophie gehörten in jedes Studium, ob Informatik, Physik, Mathematik oder Lehrerausbildung. Damit lernt man, alles zu hinterfragen und gedanklich eigenverantwortlich weiterzuentwickeln. Diese Grundausbildung des Denkens, die die Philosophie bietet, würde ich für jedes Studium, selbst bereits für die Schule einfordern.

Welche Bedeutung hat für Sie „Baukultur“?

Baukultur ist meiner Ansicht nach ein verbrannter Begriff. Es wird so inflationär über Baukultur geredet, und sie wird für banales Polit-Blabla missbraucht. Eigentlich möchte ich mich damit gar nicht mehr auseinandersetzen. Überhaupt fällt es mir schwer, zu präzisieren, was darunter zu verstehen ist. Was ist denn etwa Sprachkultur oder Kultur überhaupt, in einer durchkapitalisierten Gesellschaft, die sich selbst nicht mehr hinterfragt? Ich habe also Schwierigkeiten, ausgerechnet über Baukultur noch etwas zu sagen.

Welche Textsorten sind für Sie relevant?

Ich denke, man muss mit traditionellen, also wissenschaftlichen Methoden vorangehen, mit Analysen, Kommentaren und Quellen, reflektieren und infrage stellen. Man muss Glossen und Rezensionen zulassen. Wir arbeiten mit den klassischen Kommunikationsinstrumenten Wort und Bild. Das Wort bestimmt das Denken in seiner Schärfe. Das Bild hat jetzt nicht unbedingt die Aufgabe, verbalisierbar zu sein, über ein Bild gelingt es aber, die eigene Wahrnehmung zu überprüfen. Deswegen machen wir im Wesentlichen auch die Fotos zur Illustration von Beiträgen selbst. Im digitalen Medium geht das mit ein bisschen Erfahrung hinreichend gut. Mittlerweile steuern wir auf die 3.000 Newsletter-Abonnenten zu, vielmehr als 4.000 werden wir wohl nie erreichen. Ich bekenne mich auch dazu, dass wir ein Nischenprodukt in der Nische sind. Aber wir brauchen Nischen und eine Unabhängigkeit wie die unsere, um sie auszufüllen.

Wird Marlowes auch weiter existieren, wenn Sie einmal keine Lust mehr haben?

Das weiß ich ehrlich gesagt nicht. Jene, die wir mit unserem Medium erreichen, tragen eine gewisse Kritiklust weiter, das ist gut so. Angesichts unserer Autorenschaft bin ich sehr zuversichtlich, dass zu den 100 Schreibenden mit der nächsten Generation noch einige weitere hinzukommen werden – denn es gibt noch die Textaffinen mit einem Hang zu unabhängiger Gedankenschärfe. Was jedoch die nötige kritische Leserschaft anbelangt, habe ich angesichts unserer digitalisierten Massengesellschaft so meine Bedenken.

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