14/03/2024

Die Grazer Stadtplanung und die Immobilienwirtschaft setzen auf (Nach)Verdichtung und argumentieren das seit neuestem mit angeblich kurzen Wegen. In einem kürzlich erschienenen GAT Beitrag wurde dieser Ansatz grundsätzlich in Frage gestellt, im folgenden Kommentar wird diese Kritik am Beispiel des Grazer Stadtbezirk Andritz näher erläutert.

14/03/2024

Andritzer Zentrum

©: DI Richard Hummelbrunner

Im Flächenwidmungsplan vorgesehene Durchwegungen (gelbe Punkte) werden bei Bauverfahren häufig ignoriert, Screenshot 

Andritzer Hauptplatz: Radwege enden abrupt

©: DI Richard Hummelbrunner

Modell Bebauungsplan Andritzer Reichsstrasse, Vernichtung durch Verdichtung in zentraler Lage, ©Stadtplanungsamt 

 Reste historischer Villenbebauung, Andritzer Reichsstrasse 

©: DI Richard Hummelbrunner

Andritzer Marktplatz , abseits der beiden Markttage eine wenig attraktive Restfläche 

©: DI Richard Hummelbrunner

Kern des Konzepts der 15-Minuten-Stadt ist, dass die meisten Bedürfnisse in einem Umkreis von 3 - 4 km gedeckt werden können (zu Fuß oder per Rad innerhalb von 15 Minuten erreichbar). Als gewachsene Ortschaft hatte Andritz alle für ein Versorgungszentrum wichtigen Funktionen in geringer Entfernung. Diese guten Voraussetzungen für eine ‚15-Minuten-Stadt’ wurden allerdings in den letzten Jahren ‚verbaut’, wozu neben einer verfehlten Verkehrspolitik auch das städtebauliche Primat der (Nach)Verdichtung beigetragen hat.

Fuß- und Radverkehr systematisch vernachlässigt

Es begann bereits vor 20 Jahren mit dem verkehrsgerechten Umbau des Zentrums. Alter Baumbestand ging verloren und der öffentliche Raum wurde den Bedürfnissen des Verkehrs untergeordnet. Zeitgleich wurde eine Einkaufszone mit großzügigem Parkplatzangebot entlang der Weinzöttlstrasse errichtet und seither sukzessive erweitert. Sie übernahm wesentliche Funktionen (und Kaufkraft) des früheren Zentrums, ist von diesem jedoch zu Fuß oder per Rad nicht gut erreichbar. Ähnliche Absaugeffekte hat das Einkaufszentrum Shopping Nord – wiederum ohne adäquate Anbindung per Rad oder Bus.

Andritz wurde auf Grund seiner Stadtrandlage mit guten Verbindungen ins Zentrum (ÖV, Rad) als Wohnort immer beliebter. Die Bautätigkeit nahm zu, die Mobilitätserfordernisse wurden aber zu wenig berücksichtigt. Große Wohnanlagen wurden in Zentrumsnähe errichtet, ohne auf deren Anbindung zu Fuß oder per Rad zu achten.

Im Flächenwidmungsplan vorgesehene Durchwegungen wurden bei Bauverfahren häufig negiert. Zur Erschließung der neuen Wohngebiete wurden zwar Buslinien eingerichtet, aber alle über den Andritzer Hauptplatz geführt (u.a. wegen der Umsteigemöglichkeit zur Straßenbahn). Daraus resultierte eine enorme Zunahme des Busverkehrs im und durch das Zentrum.

Zentrum verliert an Attraktivität

Als Folge dieser (Fehl)Entwicklungen hat der Autoverkehr im gesamten Stadtbezirk zugenommen. Dies gilt insbesondere für das Zentrum und die Hauptrouten (z.B. St. Veiter Straße, Radegunderstraße), wozu auch Pendler- und Durchzugsverkehre beitragen. Der Andritzer Hauptplatz ist zudem einer der Orte mit der höchsten ÖV-Frequenz in Graz geworden. Die Aufenthaltsqualität im Zentrum hat darunter enorm gelitten. Es gibt kaum Ruhezonen oder Flanierbereiche, Lärm und Abgase nahmen zu. Die zu deren Verminderung eingeführte 30er-Beschränkung ist weitgehend wirkungslos.

Durch die Bautätigkeit der letzten Jahre wurden einige für das Ortsbild wichtige Gebäude abgerissen und das Zentrum hat mittlerweile seinen (dörflichen) Charakter weitgehend verloren. All das wirkt sich auch negativ auf die lokale Wirtschaft aus – sichtbar an der Umstrukturierung des lokalen Dienstleistungsangebotes sowie der Fluktuation bzw. Schließung von Lokalen oder Geschäften. Das Zentrum von Andritz hat daher vom Zuzug bisher kaum profitiert, auch die Vorteile räumlicher Nähe zu den großen Wohnanlagen kommen nicht zum Tragen.

Der Bauernmarkt zeigt jedoch auf, welches Potential vorhanden wäre: Vor allem samstagsvormittags herrscht reges Treiben am und um den Marktplatz, der allerdings an den übrigen Tagen eine kaum genutzte Restfläche ist.

Bebauungsplan als vertane Chance

Vor kurzem wurde für den Abschnitt der Andritzer Reichsstrasse westlich des Hauptplatzes ein Bebauungsplan erstellt (und mittlerweile auch vom Gemeinderat beschlossen). Das Areal umfasst die wichtigsten noch verbliebenen zentrumsnahen Bauplätze und ist daher für die zukünftige Gestaltung des Andritzer Zentrums von besonderer Bedeutung. Mit dem Bebauungsplan hätte die Stadtplanung die Möglichkeit gehabt, bisherige Fehlentwicklungen zu korrigieren und Weichen für einen 15-Minuten-Stadtteil zu stellen. Leider wurde diese Gelegenheit nicht genützt – im Gegenteil!

Die Stadtplanung hat – wie vom Investor gewünscht – auf hohe Verdichtung durch Wohnbau gesetzt. Die vorgesehene Verbauung würde wegen ihrer Dimension und Gestaltung jedoch die Lebens- und Wohnqualität sowie die Aufenthaltsqualität im Andritzer Zentrum weiter beeinträchtigen. Lange Gebäudefronten verhindern das Entstehen von kleinteiligem, vielfältig genutztem Straßenraum, wie er für Fußläufigkeit angebracht wäre. Das großzügige Angebot an Tiefgaragenplätzen ist im Widerspruch zur guten ÖV-Anbindung, würde Personen mit einem autogerechten Lebensstil anziehen und damit zu mehr Verkehr führen.

Statt eine Verkehrsberuhigung einzuleiten, wurden Gebäudehöhen und Bebauungsdichte mit dem Schutz der straßenabgewandten Bauplätze vor Straßenlärm begründet. Da zudem straßenseitige Gangzonen (mit Lochblechfassaden!) vorgesehen sind, ist mit einer baukulturellen Verödung des angrenzenden öffentlichen (Straßen)Raums zu rechnen – schlechte Voraussetzungen für mehr Fuß- und Radverkehr. Die schon bisher praktizierte Entkoppelung von Wohnbau und Verkehr wurde leider fortgesetzt und Verkehrsaspekte blieben weitgehend ausgeklammert – auf den Radverkehr würde z.B. überhaupt ‚vergessen’.

An diesem Standort nur an die Wohnfunktion zu denken, ist eine zu eindimensionale Herangehensweise. Gerade in einer zentralen Lage wären im Zuge der Bebauungsplanung Überlegungen zur Stärkung von Stadtteilzentren im Sinne des STEK angebracht gewesen.

Dazu zählt der Bedarf an sozialen, kulturellen oder kommunalen Einrichtungen und deren räumliche Ansprüche. Auf diese Weise hätten öffentliche Interessen bei der Planung berücksichtigt werden und in die Gestaltungsvorgaben einfließen können (z.B. für Erdgeschosszonen).

Noch besteht Hoffnung

Trotz dieser Fehlentwicklungen und Versäumnisse wären die Chancen für einen 15-Minuten-Stadtteil noch immer intakt. Die Distanzen zwischen den verschiedenen Teilräumen und Einrichtungen sind nach wie vor relativ gering, die Ausstattung mit Funktionen ist gut, wenn auch mittlerweile nicht mehr so zentral gebündelt. Und das Zentrum von Andritz verfügt noch über kompakte Reste des Ortskerns mit einem Marktplatz, der das Potential zu einem attraktiven Veranstaltungs- und Aufenthaltsbereich hat.

Allerdings ist konsequentes und koordiniertes Handeln in mehreren Bereichen erforderlich:

  • Verbesserung der Erreichbarkeit der verschiedenen Teilräume zu Fuß und per Rad. Dies erfordert primär ein Netzwerk an Wegen (statt punktueller Maßnahmen) sowie Lösungen für die unbefriedigende Situation des Rad- und Fußverkehrs im Andritzer Zentrum.
  • Entflechtung des Busverkehrs und teilweise neue Linienführungen, so dass der Andritzer Hauptplatz nicht mehr alleiniger Umsteigeknoten ist. Dies kann auch zu einer Beschleunigung von ÖV-Verbindungen und zu deren Attraktivierung beitragen.
  • Beschränkung / Verlangsamung des Autoverkehrs im Andritzer Zentrum und Reduktion von Parkplätzen an der Oberfläche. Dies sollte gekoppelt werden mit der Schaffung von unterirdischen Anrainerparkplätzen, der Einrichtung eines tim-Standortes und Verbesserungen des Rufverkehrs (GUST-Mobil).
  • Verbesserung der Aufenthaltsqualität des Hauptplatzes (Baumpflanzungen, Beschattung, Sitzgelegenheiten etc.) und der angrenzenden Teile der Andritzer Reichsstrasse, mit der Priorität für Fuß- und Radverkehr.
  • Nahversorgungskonzept für private und öffentliche Dienstleistungen als Grundlage für die Stärkung / Bewirtschaftung der Erdgeschosszonen im Zentrum.
  • Gesamthafte Betrachtung mit den angrenzenden Einkaufs- und Versorgungszonen und der Gemeinde Stattegg.

Diese Maßnahmen wären die Grundlage dafür, dass Andritz die Potentiale kurzer Wege nutzen und von einer wachsenden Wohnbevölkerung profitieren kann. Sie wären auch die Voraussetzung für weitere Verdichtung rund um das Zentrum, wo es noch erhebliche Baulandreserven gibt.

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