02/11/2005
02/11/2005

Wenige können wie er - ganz ohne Umschweife, nahezu lapidar - „innere“ und äußere Landschaften beschreiben und so gekonnt zwischen ihnen hin und her „switchen“, dass der Leser den Wechsel unbewusst, zumindest ohne Anstrengung, mitvollziehen kann. Den Weg von Barcelona nach Santiago de Compostela, der immer ein Seitenweg eines Seitenweges ist in Nootebooms „Der Umweg nach Santiago“, imaginiert das innere Auge des Lesers genauso bildhaft wie die Seelenlandschaft des Altphilologen Hermann Mussert, des Protagonisten aus „Die folgende Geschichte“, der sich auf eine Abschiedsreise begibt, nachdem er bemerkt, dass er in einem Hotelzimmer in Lissabon aufwacht, obwohl er in Amsterdam wohnt und sich dort auch am Abend davor zu Bett begeben hat. Der dieses Rätsel genauso wenig nicht klären kann wie der Autor es will. Das Lissabon, das Nooteboom in der Folge(nden Geschichte) entstehen lässt, ist eines abseits von touristischen Trampelpfaden (eher eines auf Traumpfaden) mit Orten wie der British Bar, auf deren großer Pendeluhr die Zahlenreihe umgedreht ist. „Zehn vor halb sieben war zehn vor halb fünf geworden, mit allen Schwindelgefühlen, die dazu gehören“, notiert Nooteboom und lässt uns dabeisein. Und: Keinem gelingt es wie Cees Nooteboom, den mitreisenden Leser mit Melancholie auszustatten, eine unverzichtbare Reisebegleiterin für den, der sich auf seine Reisen einlässt.
So auch in „Allerseelen“, Nootebooms Roman aus dem Berlin der 1990er Jahre, den er anlässlich eines längeren Berlinaufenthalts 1999 geschrieben hat. Es ist ein Berlin des Dazwischen. Die Vergangenheit ist noch stärker präsent als die Zukunft als Hauptstadt, Marx und Engels näher als Sony. Da ist einer, der die Stadt von außen sieht und sie doch nicht seziert. Er durchstreift das winterliche Berlin fast traumwandlerisch - auf der Suche nach Motiven für einen Film, den er seit langer Zeit drehen will, die auch eine Suche nach der Selbstvergessenheit der Liebe wird. Berlin tut sich uns auf in Nebensätzen, ein sympathisches, intimes Berlin, das sich formt aus Menschen zwischen Beharren und Aufbruch, aber auch Verlorenheit. Nootebooms Reise durch Berlin ist ein assoziatives Umherschweifen, überlagert von Geschichte und Erinnerungen an sein eigenes Schicksal.

Lesetipp:
Cees Nooteboom "Allerseelen", 1999 erschienen bei Suhrkamp und 2005 als Band 33 der Reihe „50 große Romane des 20.Jahrhunderts“ in einer Sonderausgabe der SüddeutscheZeitung/Bibliothek. Erhältlich auch einzeln im Buchhandel, kostengünstig um 4,90 Euro. Alle weiteren Bücher von Cees Nooteboom sind bei Suhrkamp erschienen.

Verfasser/in:
Karin Tschavgova, Empfehlung
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