26/04/2022

Eucalyptus Now!: Die Dekadenz des Westens im Spiegel der hereinbrechenden Apokalypse

Im Römischen Reich verbreiteten sich apokalyptische Schriften, um die staatliche Zensur zu überlisten. Heute glauben wir an Meinungsfreiheit, aber die Zensur dessen, was als meinungsbildend, als Lebensmodell gilt, bildet sich als Zäsur in der Entwicklung unseres Selbstbildes, unseres Lebensideals ab. Die Apokalypse als Enthüllung verborgener Sphären richtet nicht nur, sie richtet sich auch an uns.

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Die Kolumne zeitenweise von Wolfgang Oeggl erscheint jeden 4. Dienstag im Monat.

26/04/2022

wannahave

©: Severin Hirsch

Europe is lost, America lost, London lost 
Still we are clamouring victory 
All that is meaningless rules 
We have learned nothing from history

The people are dead in their lifetimes 
Dazed in the shine of the streets 
But look how the traffic's still moving 
System's too slick to stop working
[...]
To sleep, to dream, to keep the dream in reach 
To each a dream, don't weep, don't scream 
Just keep it in, keep sleeping in 
What am I gonna do to wake up? 
(Kae Tempest, Europe Is Lost. Album: Let Them Eat Chaos. Veröffentlicht: 2016)

Können Sie nachts noch gut schlafen? Rasen Gedanken wie Autos auf einem Autobahnzubringer zu Stoßzeiten durch Ihren Kopf? Haben Sie Angst und Sorge um die Welt von morgen, die Zukunft Ihrer Kinder? Wenn nicht, dann gratuliere ich Ihnen zur Realitätsverweigerung trotz alarmierender Umstände, dann ignorieren Sie die Tatsache, dass nun der Zeitpunkt aktiv ins Weltgeschehen einzugreifen, gekommen ist. Wenn ja, heiße ich Sie willkommen in der Welt. Sollte Ihr Atem ob der gegenwärtigen Situation ins Stocken geraten oder Ihnen der Schleim bis zum Hals stehen, kann ich Ihnen nur Eukalyptus ans Herz oder auf die Brust legen, der im Übrigen bei den Aborigines Australiens nicht nur heilende, sondern auch heilige Pflanze ist, die die Verbindung zwischen Unterwelt, Erde und Himmel darstellt und schon vielen Generationen von Aborigines-Frauen als Geburtsstätte diente. „Gut/schön versteckt“ lautet die Übersetzung aus dem Altgriechischen und bezieht sich auf den geschlossenen Blütenkelch, der den Samen ein Versteck bietet. Auch das Gegenteil zum Eukalyptus hatte ursprünglich eine heilige, religiöse Bedeutung, bevor sie in den profanen Wortschatz überging – die Apokalypse (apo: frei von, ohne), die Entschleierung, das Ent- oder Aufdecken, die Enthüllung, später im Christentum auch „die Offenbarung“ (des Geheimnisses), das Jüngste Gericht, der vermeintliche Weltuntergang.

Die Apokalypse kann nun aber in vielerlei Gestalt auf uns zukommen und wir müssen sie willkommen heißen, zu uns, in uns aufnehmen, wie den Gast, ob ungebeten oder geladen, ihr eine Stätte geben. Sie kann vorübergehend wie ein Krieg oder permanent wie die Völkerwanderungen und Fluchtbewegungen, schleichend wie die Erdzerstörung oder endgültig wie die atomare Weltauslöschung stattfinden. In jedem Fall wird sie unser aller wahres Gesicht zum Vorschein bringen und die Vehemenz, mit der sie erfolgt, hängt an jedem Teil des Ganzen – pars pro toto, passepartout. Den politischen Mystagogen, die durch zensorische Verschleierung sowohl ihre als auch unsere Handlungen wie Geheimnisse, wie Schmugglerware verdecken, kann nur in einem apokalyptischen Diskurs Einhalt geboten werden. „Selbst wenn man sich auf die politische Zensur beschränkte und wenn man hellsichtig genug wäre, um zu wissen, dass sie nicht allein von den spezialisierten Zentren des Staates ausgeübt wird, sondern überall, wie ein Argus mit tausend Augen, von einer Mehrheit, von einer Opposition, von einer virtuellen Mehrheit, und über alles, was nicht in den Rahmen der Logik des geläufigen politischen Diskurses passt, die durch den Vertrag zwischen legitimen Gegnern legitimiert sind, nun so wird man vielleicht denken, dass der apokalyptische Diskurs diese Zensur dank seiner Gattung und seiner kryptischen Kunstgriffe auch zu umgehen vermag. Durch seinen Ton selbst, durch die Vermischung der Stimmen, Gattungen und Codes, vermag er auch den herrschenden Vertrag oder das herrschende Konkordat aus der Fassung zu bringen, indem er die Bestimmungen verwirrt.“ (Jacques Derrida, Apokalypse. Wien 1985. S. 63f.) Mag sein, dass sich der apokalyptische Diskurs grundlegend nicht so sehr vom postmodernen/poststrukturalistischen Diskurs unterscheidet, mag sein, dass wir den politischen Diskurs der Zensur und der Verschleierung zu durchschauen vermögen, aber der Spiegel der Gesellschaft in seiner Gesamtheit sind auch wir selbst, wir müssen den apokalyptischen Diskurs als Selbstgespräch beginnen und aufhören, uns selbst zu belügen, uns selbst zu täuschen, uns selbst zu zensurieren, uns selbst zu ent-schuldigen. Wir wählen (oder auch nicht), wir schweigen, wir schauen zu, wir kaufen, wir konsumieren, wie vermehren (uns), wir wollen uns entscheiden, wer oder was wir sind, nur für die entscheidenden Rahmenbedingungen des sozio-ökonomisch-ökologischen Zusammenlebens wollen wir keine Verantwortung tragen. Unsere Revolutionen fanden allenfalls innerhalb unserer konservativen Familien statt, ohne den Verzicht auf Luxus, um dann, wenn wir unsere Kinder taufen lassen, unsere Jobs ausüben, um Wohlstand und Tradition weiterzuführen, auf eine widerspenstige Jugend zurückblicken zu können. Die Apokalypse bedeutet auch die Entmystifizierung des Selbstbildes, die Ent-täuschung.

Acht Millionen Ukrainer:innen haben bereits ihre Heimat verlassen, für sie hat die Apokalypse schon begonnen. Es lässt sich nur schwer ermessen, was noch folgen wird. Die Kriegsrhetorik herrscht sowohl auf ukrainischer wie auf russischer Seite und bestimmt einen unvereinbaren Diskurs, der dann wohl eher als Monolog der jeweiligen Seite bezeichnet werden muss. Beide Seiten spulen mantrahaft ihre Forderungskataloge ab. Dazwischen wird Blut vergossen und Leid über die Menschen gebracht, Waffenlieferungen sollen dabei helfen, die russische Offensive einzudämmen und Europa Zeit zu verschaffen, sich auf das Schlimmste vorzubreiten. Schweden und Finnland ziehen bereits ernsthaft in Erwägung, ihre Neutralität aufzugeben und der NATO beizutreten, um im Falle weiterer russischer Expansionsbestrebungen gerüstet zu sein, was nicht unbedingt zu einer Deeskalation mit Russland beiträgt. Der Spielraum in diesem Konflikt ist äußerst begrenzt, die Angriffe Russlands könnten sich angesichts der bedingten Handlungsmöglichkeiten schnell ausweiten, zudem besteht noch die Bedrohung durch atomare Waffen als eine und letzte Möglichkeit im Raum. 30 Jahre nach dem Ende des Kalten Krieges, indem diese letzte alternativlose Möglichkeit, die absolute Apokalypse lediglich als Abschreckung vor etwaigen feindlichen Aggressionen zur Schau gestellt wurde, müssen wir uns heute paradoxerweise damit konfrontieren. Paradox selbstverständlich aus Sicht eines dekadenten Westens, der die Möglichkeit eines Krieges in ganz Europa niemals mehr in Betracht gezogen hätte. Vor 30 Jahren verschwanden die Schutzkeller aus den Neubauten und der Krieg vollends aus unserem Bewusstsein. Heute stelle ich mir die Frage, welche Männer unter 60 Jahren bleiben und ihr Land verteidigen würden und auch könnten, oder ob wir uns kampflos unterwerfen, das Land verlassen und/oder einer imperialistischen Besatzungsmacht überlassen, wie wir das schon beim Wirtschaftsimperialismus getan haben?

Die Flüchtlinge sind unsere Verbündeten, sie sind Suchende nach einer Zukunft. Sie sind unsere Zukunft. Ob sie aus dem Umland oder aus fernen Ländern, ob sie aus ökonomischen, ökologischen oder lebensfeindlichen Gründen kommen, sind sie in irgendeiner Form im Überleben bedroht, wie auch wir in unserer Zukunft bedroht werden. Oder verspüren Sie mehr Solidarität mit den steuerflüchtigen Milliardären und korrupten Politikern, die ihre Vermögen in irgendwelchen Steueroasen geparkt haben und sich an Krisen mehrfach bereichern? Was empfinden Sie anlässlich eines Kontraktes, den die englische Innenministerin Priti Patel mit der ruandischen Regierung abgeschlossen hat, der es England erlaubt, ankommende Flüchtlinge nach Ruanda zu transportieren, um ihnen dort (im Hotel „Hope“) einen sicheren Aufenthaltsort zu gewähren? Hört sich das nach Verhöhnung oder dem europäischen Traum, wer ihn auch immer träumen mag, an? Vielleicht muss dieses Europa der Apokalypse ins Antlitz blicken, sich richten lassen, um der Sprachlosigkeit der Massen und der Sprache der Mächtigen Einhalt zu gebieten. Der apokalyptische Diskurs setzt sich über politische Verordnungen, gesetzliche Vorschriften, über Machtstrukturen und Einflusssphären hinweg, er ist wie eine Metasprache, der die Unterwelt, Erde und Himmel vereint.

Seht sie an, 
Sie nehmen uns nichts weg.
Wenn sie die Hände öffnen,
Dann betteln sie nicht,
Sondern sie schenken uns
Den Traum von Europa,
Den wir vergessen haben.
(Laurent Gaudé, Regardez-les. Zitiert in: Alain Badiou, Traut den Weißen nicht. Wien 2020. S.33.)

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