08/09/2020

Die Kolumne Wolkenschaufler von Wenzel Mraček zu Lebensraum, Kunst und Kultur(-politik) erscheint jeden 2. Dienstag im Monat auf GAT.

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08/09/2020

Herbst 1968: Whole Earth Catalog (Sammlung Mraček)

©: Wenzel Mraček

Ende der Globalisierung?


It's the end of the world as we know it (I had some time alone)

R.E.M. (1987)

Der Kalifornier Stewart Brand, von dem es heißt, er sei der Erfinder der Bezeichnung Personal Computer, hatte 1984 die erste Online-Community – The Well – gegründet. The Well (Der Brunnen oder Die Quelle) ist ein Akronym aus The Whole Earth 'Lectronic Link (ungefähr: Die elektronische Verknüpfung mit der ganzen Welt). Vielleicht war Brand – man weiß es nicht – mit The Gutenberg Galaxy (1962) vertraut, jener Publikation, in der Marshall McLuhan erstmals die Vorstellung des Global Village formulierte. Durch elektronische Vernetzung nämlich werde die ganze Welt zusehends zu einem Dorf komprimiert. Quasi im Umkehrschluss dachte McLuhan auch an die Extensions of Man (Understanding Media, 1964), an durch elektronische Medien erweiterte, ausgedehnte und vernetzte Kommunikationsmöglichkeiten. Die These weitergedacht, wäre so ein früher Schritt in die Omnipräsenz des Individuums via elektronische Kommunikation zu vermuten: Science Fiction der 1960er Jahre. Dass Sigmund Freud den vergleichbaren Ansatz schon 1930 (Das Unbehagen in der Kultur) in seiner Darstellung des Menschen als „Prothesengott“ anführte, erwähnte McLuhan damals besser nicht: Flugzeug, Schiff, Telefon seien körperliche Erweiterungen des Menschen, die in vergleichsweise kurzer Zeit verschiedenste Formen von Anwesenheit möglich machten.

Stewart Brand wiederum verkaufte 1966 Anstecker mit der Aufschrift „Why Haven’t We Seen A Photograph Of The Whole Earth Yet?“. Damit forderte er die NASA auf, im All aufgenommene Fotos der Erde zu veröffentlichen. Zwei Jahre später, im Herbst 1968, erschien die erste Ausgabe des von Brand bis 2003 herausgegebenen Whole Earth Catalog – auf dem Cover das erste, somit weltweit sichtbare Foto der blauen Murmel, das ein NASA-Astronaut gerade aufgenommen hatte.
In einem Interview (aktueller Band 269, KUNSTFORUM International, Aug.-Sep. 2020) hält die Kunsthistorikerin und Kuratorin Carolyn Christov-Bakargiev (leitete die dokumenta 2012) die erste Mondlandung am 1. Juli 1969 für den Beginn der Globalisierung. Seit diesem Tag nämlich, seien die Menschen erst in der Lage, die Welt als Globus wahrzunehmen. Eingedenk der Veröffentlichung Stewart Brands im Jahr zuvor eine sehr eigenwillige Behauptung, ganz abgesehen etwa von der Expedition des vormaligen Korsars Cristoforo Colombo oder des sogenannten Erdapfels, den Martin Behaim im Auftrag des Nürnberger Rates 1492 anfertigen ließ. Davon aber ist im KUNSTFORUM International nicht die Rede. Vielmehr geht es um, so der Titel der Ausgabe, „Entzauberte Globalisierung. Alternative Visionen des Polykulturellen“. Weniger verquast vielleicht: es handelt sich um die Globaliserung des Kulturbetriebs seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und die gegenwärtigen Umstände infolge der Pandemie.
Für den Herausgeber Heinz-Norbert Jocks beginnt die Globalisierung der Kunstwelt 1989 mit der Weltkulturenschau Magiciens de la Terre im Centre Pompidou. Ein früher Versuch, die Hegemonie westlicher gegenüber Kunst aus Australien, China oder Afrika zu nivellieren. Unter den gegebenen Reisebeschränkungen ist Jocks nun um die Rezeption von Kunst besorgt, wenn Kunst zwar allenthalben gezeigt werden kann, aber Künstler nicht präsent sein können und nicht die Möglichkeit zum Dialog mit dem Publikum haben.
In dem Band ist auch von Ermüdung der Kuratoren zu lesen respektive von der Hoffnung, das Virus könnte eine Pause im Jet-Setting erzwingen. Das „fliegende Klassenzimmer“ – immer dieselben, Publikum wie Kuratoren, stellen sich zu den internationalen Messen und Schauen ein – würde vielleicht ins Home Office gesteckt. Ein Virus wird offenbar zum Auslöser für ökologische Bedenken, wenn der weltweit agierende Kurator Hans Ulrich Obrist nun über den ökologischen Fußabdruck nachdenkt, den er hinterlässt. Hinkünftig will er nur noch einmal pro Jahr reisen. Nicht weniger originell ist auch Carolyn Christov-Bakargievs Idee, nach der der Sauerstoff in Europa und Amerika aus Brasilien und Afrika komme. Gerecht wäre es also, wenn Europa und Amerika für Sauerstoff bezahlten wie für Öl.

Wenn Omnipräsenz, dann Peter Weibel. Von ihm (und Jesus und Elvis Presley) geht immerhin die Mär, mehrere Personen hätten ihn zur gleichen Zeit an verschiedenen Orten getroffen. Weibel, um hier zu erinnern, hatte im steirischen herbst 1996 die zum Thema passende Ausstellung Inklusion : Exklusion. Versuch einer neuen Kartographie der Kunst im Zeitalter von Postkolonialismus und globaler Migration kuratiert. Im KUNSTFORUM International und im Gespräch mit Heinz-Norbert Jocks sagt Weibel, dass 1989, im Jahr der Pariser Ausstellung Magiciens de la Terre dazu ein Artikel in der Zeitschrift Art in America erschienen war, nämlich unter dem Titel The Whole Earth Show, eine Paraphrase auf das hier eingangs erwähnte kalifornische Gegenkultur-Magazin Whole Earth Catalog.
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