14/04/2020

Wolkenschaufler_33

Handshakes in Mind only, Airkisses too!

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Die Kolumne Wolkenschaufler von Wenzel Mraček zu Lebensraum, Kunst und Kultur(-politik) erscheint jeden 2. Dienstag im Monat auf GAT.

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14/04/2020

Screenshot von Wenzel Mraček – siehe Link > americascup.com

©: Wenzel Mraček

Handshakes in Mind only, Airkisses too!

Gerne hätte ich diesmal vom America’s Cup erzählt, insbesondere von den neuen Booten, sofern man diese Segler noch als Boote bezeichnen kann. Die Moral, die gestern bei mir vorstellig geworden ist, gab mir aber den Weisel, auch wenn es gerade alle tun, sollte sich auch ein dilettantischer Wolkenschaufler mit den unausweichlichen Umständen beschäftigen.
Dennoch kurz voraus: Im Finale 2017 um die seit 1851 weiter gereichte Silberkanne Auld Mug, setzte sich das neuseeländische Team gegen die Titelverteidiger USA durch. Die nun 36. Austragung der finalen Rennen hätte zwischen 4. und 7. Juni dieses Jahres in Portsmouth stattfinden sollen. Aufgrund der Pandemie sollen die Qualifikationen jetzt im Dezember starten, und das America’s Cup Match soll voraussichtlich erst im März 2021 in Auckland stattfinden.
Worüber ich mich als ehemaliger Seefahrer gerne ausgelassen hätte, ist die Bauweise der „Flieger“, die nun nicht mehr Katamarane, sondern Einrumpfer (Monohulls) sind, die auf Ruderblatt und jeweiligem Leeausleger (Foils, Tragflächen) Geschwindigkeiten von mehr als 50 Knoten (92,6 km/h) erreichen. Ob segeln oder fliegen, die physikalischen Bedingungen sind vergleichbar. Bei der Bewegung von Booten wie diesen handelt es sich vielleicht wirklich um vertikales Fliegen. Es ist allerdings auch so, dass, wie kolportiert wird, die Entwicklung solcher Boote, ihr Bau, die Logistik, Mannschaften, die Teilnahme an den Rennen etc. die derzeit fünf Teams jeweils etwa 350 Mio. Dollar kosten. Das sind nachgerade obszöne Summen für den „teuersten Spaß der Welt“ wie ein Zeitung während der letzten AC-Austragung titelte, die man „bei aller Faszination“, sagt mir Kollege Gunk während unserer Diskussion zum Thema, doch besser zum „Wohl der Menschheit“ aufwenden sollte. Aber wie wäre es denn, wenn man an angesichts dieser Spielzeuge an Technologietransfer denkt, etwa an Segeln statt dem Verbrennen von dreckigem Schiffsdiesel?

Damit folgt hier der Themenwechsel zu Fragen der Pandemie, für deren Kompensation zurzeit allenthalben nahezu alles Geld aufgewendet wird, während Mittel für alle – die Arznei! – so bald wohl nicht verfügbar sein werden. Ein gut isolierter Wolkenschaufler – Literatur nämlich isoliert: gesellschaftlich, weil man während der Lektüre über deren Aufzeichnungen mit nur imaginierten Autoren korrespondiert, und weil an der Wand aufgestellte Bücher (Buch, von althochdeutsch Holz) aufgrund schlechten Wärmeleitwerts physikalisch isolieren – der isolierte Wolkenschaufler also befasst sich mit in der Gesellschaft und deren Kultur zu findenden Zeichen. Nicht zuletzt auch nach der Lektüre von Roland Barthes Das Reich der Zeichen, in dem sich der Semiotiker 1970 mit dem für uns Westler sublimiert anmutenden Umgang der Japaner auseinandersetzte. Die hier angelegte Methode Barthes, in Vergleichen auch zu einer seither entwickelten Globalisierung und der wechselweise übernommenen Verhaltensformen, und das wiederum umgedacht auf veränderte Bedingungen infolge der Pandemie, ist Anregung für folgende Vermutungen und Fragen, auf die es vielleicht keine Antworten geben wird.

Wir sind nun angehalten, soziale Kontakte zu vermeiden und wir tragen Schutzmasken weitgehend im öffentlichen Raum. Wir sollen allerdings nicht weit gehen, und die Schutzmasken anonymisieren uns gegenüber anderen Menschen, die wir nicht treffen sollen. Angenommen, eines Tages ist alles wieder gut: Wer wird uns sagen – auch unter dem Aspekt des bestehenden Vermummungs-Verbots –, das Tragen von Schutzmasken sei nun nicht mehr notwendig? Werden wir selbstbestimmt, wie es in Asien schon vor der Pandemie üblich war, auch weiterhin gegebenenfalls SM tragen (das Kürzel ist gewollt!)?.
Gemeinhin waren die Arbeitenden in Großraumbüros ohnehin von dieser architektonischen Lösung wenig begeistert. Derzeit sind die GRBs verwaist, man wurde auf Heimarbeit geschickt. Das Internetz und diverse Tools helfen bei der nun vermehrt betriebenen dienstlichen und privaten Fernkommunikation. Wie wird es um das individuelle Wohlbefinden stehen, wenn die GRBs wieder bezogen sind und MitarbeiterInnen sich nun von Neuem der Generalklima-Anlage ausgesetzt sehen? Werden Gesellschaften, die GRBs betreiben, auch nach der Krise auf für sie Kosten kompensierende Heimarbeit setzen, weil sie sich bewährt haben wird? Anscheinend bewährt sich auch der Ersatz von Stammtischen durch Treffen per Videoschaltungen. Man tauscht sich in simulierter Anwesenheit aus, während sich jeder Teilnehmer selbst bewirtet. Georg Simmel, der 1903 Die Großstädte und das Geistesleben analysierte und darin feststellte, dass intellektueller Fortschritt auch durch die städtischen Cafés und die dort gehaltenen Diskussionen befördert wird, hätte sich das wohl kaum erwartet. Zudem besteht in der aktuellen Form auch kein Rauchverbot.

Wenn vor Jahren Wissenschafter immer wieder an die Möglichkeit von Pandemien gedacht haben, blieben diese Überlegungen jeweils im Status von Dystopien. Niemand dachte wirklich an ein Wahrwerden von Szenarien, wie wir sie gerade erleben. Tatsächlich fand das Durchdenken der Katastrophe – wiederum in Form von Fiktionen – in der Literatur statt: bei Boccaccio, in Arno Schmidts Schwarze Spiegel, in Camus Die Pest oder eigentlich auch in den Tagebüchern der Brüder Goncourt. Der mit Hausarrest bedachte Xavier de Maistre verfasste vor 1794 seine Reise um mein Zimmer, in der er Abenteuer um die Gegenstände seiner Klausur imaginierte. Weit spannender meines Erachtens, als der momentane Wust von Corona-Tagebüchern (wollen wir wissen, wie Frau X jetzt ihre Zeit zuhause verbringt?). Zugegeben, ich bin ungerecht. Denn wer kann wissen, was in 226 Jahren auf welches Interesse stoßen wird. Genauso unvorstellbar ist es aber rückblickend, was man gegen die weltweite Ausbreitung eines Virus denn hätte tun sollen.

Wie benutzt man nach der Krise öffentliche Verkehrsmittel, Flugzeuge zumal, wovon derzeit zumindest abgeraten wird? Der Individualverkehr per Automobil wird jetzt propagiert, während man zuvor versuchte, den öffentlichen Verkehr zu attraktivieren. Wann werden einmal ausgebildete Gewohnheiten wieder in frühere verkehrt und was werden neue Gewohnheiten sein, die in der Gesellschaft akzeptiert sind? Wann werden wir einander zur Begrüßung wieder die Hände schütteln (während das in Asien, auch in den USA, so ohnehin nicht üblich war)? BussiBussi ist ebenso gestrichen wie busy busy! Stattdessen sei empfohlen, Risi Pisi zu kochen. Für mein Empfinden war BB, Luftküssen, ohnehin ein merkwürdiges, dennoch gesellschaftlich irgendwie verlangtes Überschreiten persönlicher, wenn nicht intimer Grenzen. Besonders, wenn wir einander eigentlich gar nicht kannten. Bei uns links und rechts, bei den Franzosen sogar mit abermaligem Seitenwechsel. Weil man aber gerade in der Reihe der Gebusselten stand galt es als ungehörig, sich zu verweigern. Wenn der Brauch einst wieder aufleben sollte, wird er eher auf die jeweils engsten Kreise beschränkt bleiben. Eine Ausnahme muss für den Drachen Dagobert in der Urania Puppenbühne gelten: Ohne BussiBussi ist er’s nicht!
Und dann ist da noch die Tendenz der städtischen Verdichtung. Ist das, aus Sicht des gedungenen Zuhausebleibens, ein Modell für künftige Wohn- und Lebensqualität?
Wann wird der Bäderbetrieb wieder aufgenommen (werden können)? Die Jahreszeit ist diesmal offenbar nicht Ausschlag (!) gebend. Werden wir, so wir verlernen uns in Badehosen zu begegnen, eine neue Qualität von Schamgefühl entwickeln?

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