19/05/2013

Manfred Omahna, Mag.phil. DI. Dr. Geb. 1970. Studium der Kulturanthropologie, Geschichte und Philosophie an der Karl-Franzens-Universität Graz und Studium der Architektur an der Technischen Universität Graz. Lehrbeauftragter an der KF-Uni Graz und an der TU Graz.
Forschungsschwerpunkte:
- Urban- und Wohnforschung
- Soziale und kulturelle Distinktion
- Globalisierung
- Feldforschung
- Handlungstheorie und -praxis
- Handwerk

19/05/2013

Schiffgasse Graz, Wohnen in allen Facetten und Etagen

©: Manfred Omahna
©: Redaktion GAT GrazArchitekturTäglich

Kasernstraße Graz, 'Balkonien'

©: Manfred Omahna

Kärnterstraße Graz

©: Manfred Omahna

„Inmitten der ziellosen Wanderschaft des
vorgeschichtlichen Menschen waren die Toten die ersten,
die dauernde Wohnung fanden.“
(Lewis Mumford, 1961)

In unserem Leben müssen wir uns an Dingen orientieren. Während darauf geachtet wird, dass zwischen Bett und Kleiderschrank genügend Platz zum Durchgehen frei bleibt, wird im engsten Sinne auch Gesellschaftsstruktur geplant – die Wohnung wird zur prägnanten Kulisse des Privaten, als Mikrokosmos unserer urbanen Umgebung. Die Stadt als Lebens- und Wohnraum bietet den Menschen die räumliche Grundlage um kulturelle Eigenheiten mittels symbolischer Gestalt vermitteln zu können.(2) Die Struktur der Wohnung, die Anordnung der Räume, ist genauso wie die Struktur der Stadt Spiegel der Gesellschaftsstruktur. Wir wohnen nicht nur in unserer Wohnung, wir bewohnen auch die Stadt, in der wir leben. Im Stadtplan wird die Struktur der Verwaltung (Rathaus, Justizgebäude, Arbeitsamt u.s.w.) genauso festgeschrieben wie die unterschiedlichen Wohnformen – das Hochhaus im Innenstadtbereich, verdichteter Flachbau, Mehrfamilienwohnhäuser oder Einfamilienhäuser am Stadtrand.
Die Wohnung der Nachmoderne stellt einen Raum dar, der die Belastungen des Alltagslebens so gut wie möglich ausgleichen soll. Anhand der Teilung in die beiden Sphären der privaten und öffentlichen Welt, wurden die Männer stärker dem öffentlichen, Frauen hingegen eher dem Privaten zugeteilt. Die Meinung, dass die Arbeitswelt belastet und die Wohnung entspannt, verläuft anhand geschlechtsspezifischer Grenzen. In neoliberalen Arbeitsverhältnissen sind jedoch auch Frauen gezwungen, Gefühle zu kontrollieren und innerhalb der Arbeit distanziert zu agieren. Ähnlich wie der Mann innerhalb der bürgerlichen Familie des späten 18. Jahrhunderts Entspannung und Stärkung in der häuslichen Atmosphäre schöpfen sollte, besteht diese Notwendigkeit heute für beide Geschlechter.
Frauen wie Männer sind heute vermehrt gezwungen, einen eigenen Raum für sich zu beanspruchen, um den Belastungen der Arbeitswelt standhalten zu können. Diese Tendenz, die für viele mit finanziellem Mehraufwand und geänderten Beziehungsformen einhergeht, lässt sich an der steigenden Anzahl von Singlehaushalten, Alleinerziehenden und Paaren mit getrennten Wohnungen festmachen. Die größten finanziellen Schwierigkeiten haben Alleinerziehende Mütter und Menschen, die alleine wohnen – rund 45% der Menschen dieser Wohnformen geben an, mit ihrem Einkommen ihren Lebensunterhalt nur schwer meistern zu können.(3) Vielfach wird der eigene Lebensstil so zum „Schuldigen“ des eigenen Scheiterns.
Die Menschen benötigen in der Nachmoderne vermehrt ihren eigenen Raum um ihre inneren Konflikte zu lösen. Konflikte, die entstehen weil unser Alltagsleben in verschiedene Inszenierungen eingebunden ist, die sich ständig wiederholen. Im Shopping Center, im Kino, im Urlaub oder aber auch am Arbeitsplatz selbst sind die Menschen angehalten, sich einer Inszenierung entsprechend zu verhalten. Die Wohnung wandelt sich deshalb vermehrt zu einem Ort, wo man so sein will wie man „wirklich“ ist.
Wie sich die Menschen seit den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts ihren Wohnraum angeeignet haben zeigt, dass die Beanspruchung eines eigenen Raumes stark an Bedeutung gewonnen hat. Noch im 19. Jahrhundert hatte das für den Großteil der Bevölkerung wenig Bedeutung. (4) Mit der Industrialisierung und dem Anwachsen der Bevölkerung, ist auch langsam ein besonderes Bedürfnis nach der Aneignung eines eigenen Wohnraumes entstanden.
Der Wohnbau insgesamt war wohl eines der größten Projekte der industriellen und nachindustriellen Gesellschaft. Um 1800 gab es in der westlichen Welt keine einzige Stadt mit mehr als einer Million Einwohnern, 1900 gab es bereits elf Millionenstädte. Im Jahr 2008 befinden sich zum Beispiel in Deutschland vier Millionenstädte – Städte sind zum Teil auch Ballungsräume geworden, die im Falle der Metropolregion Rhein-Ruhr bis zu zehn Millionen Menschen umfassen.(5) Vor allem der Wohnbau – von der Vorstadtsiedlung bis zum Wohnblock, vom Terrassenhaus bis zum Wolkenkratzer – lässt unsere urbanen Räume als „Global Cities“ erscheinen. Städte, die sich im globalen Wettbewerb befinden, sind nicht zuletzt auch im Wettstreit um die Wohn- und Lebensqualität.

Vom idealen Grundriss zum individuellen Eigenraum
So wie jede Wirtschaftsform auf der Makroebene eine bestimmte Stadtform erzeugt, erzeugt sie auf der Mikroebene einen bestimmten Wohnungsgrundriss. Die funktionale Anordnung der Räume in einer Wohnung organisiert und normiert nicht nur eine bestimmte Form des Zusammenlebens, sondern auch eine bestimmte Form sozialer und ökonomischer Reproduktion. Angesichts der stetig steigenden Wohnbaukosten wird befürchtet, dass es in Zukunft einerseits leerstehende Wohnungen geben wird und andererseits Obdachlose, die sich kein Dach über dem Kopf leisten können. Betroffen sind dabei sowohl die unteren Einkommensschichten, als auch Jungakademiker oder Beamte, deren finanzieller Spielraum nicht besonders groß ist.(6)
Die Entwicklung der Wohnungsgrundrisse ist Teil der Rationalisierung des 19. und 20. Jahrhunderts. Charakteristisch dafür ist der gesellschaftliche Diskurs über Fortschritt, Emanzipation und rationales Handeln.(7) Im Wohnbau dominierte der Baukörper über den Zuschnitt der Wohnungen und die einzelnen Räume und spiegelte sowohl die Merkmale des bürgerlichen Mietshauses des 19. und beginnenden 20. Jahrhundert, als auch die herrschenden gesellschaftlichen Fortschritts-Vorstellungen. Die Form der Grundrisse ergab sich durch die Addition der Räume, die bestimmte soziale Abläufe - vorwiegend die Familie betreffend - zum Anlass der Anordnung machten.(8) Die Ideologie der bürgerlichen Repräsentation wurde auch zur Grundlage der Bauordnung.
Im Gegensatz dazu standen die Bauten der Funktionalisten der 1920er Jahre. Für sie standen nicht soziale Abläufe im Vordergrund, sondern physische. Sie forderten das Planen von “innen nach außen”, also nicht in einen vorgegebenen Grundriss Wohnungen einzupassen, sondern anhand funktioneller Abläufe, den Bedürfnissen der Menschen entsprechend, den Bau “wachsen zu lassen”. Die wichtigsten Errungenschaften der neuen Architektur, die sich besonders auf die Wohnweise und Organisation des Grundrisses stützten, sind jedoch kaum oder nur rudimentär in den Kanon des neuen Bauens eingegangen. Nach den sozialen Umwälzungen durch den Ersten Weltkrieg und der Verschiebung der Machtverhältnisse zugunsten sozialer Bewegungen wurde der Wohnungsbau zum ersten Mal in der Geschichte als öffentliche Aufgabe gesehen, nicht aber freiwillig, sondern vor allem wegen des Zusammenbruchs des privaten Wohnungsbaus.(9)
Die meisten Grundrissideen waren schon in den 1920er Jahren erfunden worden.(10) Den klassischen Raumgruppengrundriss konzipierte Alexander Klein 1928. Die Grundlage bildete die Ausrichtung der Raumgruppe Wohnen mit Balkon nach Westen und die Raumgruppe Schlafen nach Osten. Walter Gropius verarbeitete den Raumgruppengrundriss in seinem Frankfurter Projekt und bei seinem Interbau-Beitrag. In dem sparsamen und tiefen Baukörper werden an einem langen schmalen Mittelgang Räume verschiedener Funktionen mechanistisch aufgereiht. Ludwig Hilbersheimer wendete den Kabinengrundriss für ein Mehrfamilienhaus an. Er beruft sich auf die rationelle Anwendung der Passagierkabine in Ozeandampfern. Die Erschließung der einzelnen Räume ist allerdings lediglich vom Wohnraum aus möglich. Bruno Taut hat 1920 schon auf die, von den Menschen vorgegebene, notwendige Wandlungsfähigkeit des Hauses hingewiesen. Ludwig Mies van der Rohe gelang es schließlich 1927, seine Idee von Wohnungen in Stahlskelett-Konstruktionen mit versetzbaren Wänden zu verwirklichen. “Sein Beitrag zur Weißenhofsiedlung in Stuttgart ist die veränderbare Wohnung bei gleichen konstruktiven Vorgaben. Vier, fünf und sechs Personen sind auf der gleichen Wohnfläche unterzubringen. Eric Freiberger baut Geschossebenen als unveränderliche Betonkonstruktion, in die Wohnungen nach freier Wahl eingebaut werden konnten.”(11)
Der Entwurf alternativer Grundrissformen war auch ein Versuch, gesellschaftliche Veränderungen zu beeinflussen. Dies inkludierte auch die Hoffnung auf Emanzipation. Es war die Idee einer besseren Welt, die den Menschen mit den Grundrissformen vermittelt werden sollte.
Die Nachkriegsjahre waren von einer effizienten Wohnungsproduktion in Fertig- und Plattenbauweise geprägt, um der herrschenden Wohnungsnot entgegen zu wirken. Diese Tendenz hielt bis zum Ende der 1960er Jahre an. In den 1970er Jahren lag der Schwerpunkt bei der Stadterweiterung und bei der Errichtung von Terrassenhäusern. Anders als die in den 1950er und 1960er Jahren gebauten Wohnhochhäuser sollten die Terrassenhaussiedlungen einen Wertewandel im Wohnungsbau darstellen. Sie wurden in der geistigen Tradition der 1968er Generation erbaut und standen für “Einheit und Vielfalt”. Das Konzept einer größtmöglichen Einbeziehung individueller Wünsche und der Versuch, neue soziale Formen städtischen Wohnens zu initiieren, kann als Brücke zu postmodernen Lebensformen gesehen werden. Die Botschaft der Grundrissformen und die des Bauwerkes selbst sind nicht mehr der unaufhaltbare Fortschrittsgedanke der modernen Welt. Trotz der gigantonomisch anmutenden Terrassenhäuser sollte dort die Nähe zur Natur im Vordergrund stehen, sie sollte einen Beitrag zur Auflösung der Dichotomie zwischen Natur und Technik liefern.(12)
Roland Rainer verfolgte den Anspruch, etwa in der gleichen Zeit als die Terrassenhäuser erbaut wurden, mit seiner stark verdichteten Siedlung Linz Puchenau den Bewohnern Nähe zur Natur und eigenen Freiraum zu bieten. “Durch Anwendung von viergeschossigen Spännertypen an der Straße, abfallend bis zu eingeschossigen Häusern an der Donau, ergibt sich eine dem Duktus der Landschaft folgende Siedlungsgestalt mit formaler und sozialer Durchmischung.”(13) Rainer meint, dass der Wohnungsbau nie das primäre Problem der Architektur gewesen sei, weil die Menschen nie den Anspruch auf eine architektonische Gestaltung gehabt hätten. Den Konflikt zwischen Architektur und Wohnbau führt Roland Rainer auf den übermäßigen Gestaltungswillen der Architekten zurück.(14)

(1) Der vorliegende Text ist eine in Teilen veränderte Fassung von: Manfred Omahna: Eigene Räume, in: Peter Janisch, Christina Heinz (Hg.): In Bewegung. Wie Alltag sich verändert, Veröffentlichungen des Freilichtmuseums Hessenpark, Frankfurt am Main: 2009, S. 18-25 und Manfred Omahna: Wohnungen und Eigenräume. Die Pluralität des Wohnens am Beispiel von Einpersonenhaushalten, Frankfurt am Main, Oxford u.a.: 2005.
(2) vgl. Lewis Mumford: Die Stadt. Geschichte und Ausblick. Frankfurt am Main 1979, S. 110.
(3) vgl. Statistisches Jahrbuch 2007, S. 555.
(4) Bauern, Heuerlinge, Landarbeiter, Tagelöhner, Industriearbeiter, Handwerker, kleine Angestellte und Unterbeamte hatten alle keinen eigenen Raum. vgl. Adelheid Saldern: Im Hause, zu Hause. Wohnen im Spannungsfeld von Gegebenheiten und Aneignung. In: Reulecke, Jürgen (Hg.): Geschichte des Wohnens. 1800 – 1918 Das bürgerliche Zeitalter. Stuttgart 1997, S. 147.
(5) vgl. Lewis Mumford: Die Stadt. Geschichte und Ausblick. Frankfurt am Main 1979, S. 617 und Statistisches Jahrbuch 2008, S. 38 und S. 39.
(6) vgl. Interview mit dem Obmann der Gemeinnützigen Bauvereinigung in: Die Presse, 7. Juni 1997.
(7) Dagmar Reese, Eve Rosenhaft, Carola Sachse u.a. (Hg.): Rationale Beziehungen? – Geschlechterverhältnisse im Rationalisierungsprozess, Frankfurt am Main: 1993, S. 9.
(8) vgl. Axel Schildt, Arnold Sywottek (Hg.): Massenwohnung und Eigenheim – Wohnungsbau und Wohnen in der Großstadt seit dem ersten Weltkrieg, Frankfurt am Main/New York: 1988, S. 541.
(9) vgl. ebd. S. 545.
(10) vgl. Reinhard Gieselmann: Entwicklung des Wohnungsgrundrisses, in: Friederike Schneider: Grundrißatlas – Wohnungsbau, Basel Boston Berlin: 1997, S. 17.
(11) vgl. ebd.
(12) vgl. Elisabeth Katschnig-Fasch: Möblierter Sinn – Städtische Wohn- und Lebensstile, Wien/Köln/Weimar: 1998, S. 126
(13) Reinhard Gieselmann: Entwicklung des Wohnungsgrundrisses, in: Friederike Schneider: Grundrissatlas – Wohnungsbau, Basel Boston Berlin: 1997, S. 21.
(14) Gespräch mit Roland Rainer, Wien: 1998.

Neue Ordnungen privater Räume - Die Wohnung als Spiegel des Selbst
Das Bedürfnis nach Einigelung, nach Intimräumen und Abgrenzung nach Außen ist von innovativen Konzernen längst als Marktwert erkannt worden und wird mit Wortspielen wie: „Ein kleines Zuhause für große Ideen“, „Einrichtung ist Lebensart“ oder „Wohnen auf deine Art“ beworben.(15) Neue Einrichtungsgegenstände, die erst angeeignet werden wollen, frisch verlegte Bodenbeläge oder steril aufgeräumte Küchen verweisen auf die rationalen Strukturen der Ökonomie, von der die Gegenstände auch produziert worden sind. Dieser Umgang mit Struktur, Rationalität, Knappheit, Überangebot, Konkurrenz fordert das Bedürfnis nach der Aneignung der eigenen Räume heraus und beschreibt den hohen Wert der Wohnung für die Menschen. Die gestiegene Bedeutung „selbst“ sein zu können (ja zu müssen), markiert die wesentlichsten Veränderungen im Wohnen seit der Mitte des 20. Jahrhunderts.
Abgrenzung, Selbstdarstellung, Anhäufung von materiellen Werten werden höher bewertet als Gemeinsamkeiten. Der Schutz, den die Wohnung bietet, wird „gleichzeitig Schranke und Einschränkung, produziert Stärke und Schwäche, schafft nicht nur Liebe und Geborgenheit, sondern auch unkontrollierte Aggression und Gewalt.“(16)
Die Folgen der Individualisierung spiegeln sich vielfach in suburbanen Einfamilienhaussiedlungen. Die symbolische Präsentation von Reichtum und Abgrenzung gegenüber Anderen funktioniert hier wohl am Besten.
Die Aneignung der urbanen Umlandgebiete ist geprägt vom modernen Fortschrittsgedanken des Wirtschaftsaufschwunges der Nachkriegsjahre. Die Anhäufung von Eigentum und ökonomischem Kapital wurde zum Lebensstil: nicht zuletzt auch, um sich von jenen abzugrenzen, die sich kein eigenes Haus leisten konnten. In Europa – aber besonders auch in den USA – ist die Suburbanisierung seit den 1960er Jahren massiv angestiegen, der Traum vom Eigenheim wurde überaus bestimmend.(17)
Beschleunigt wurde die Suburbanisierung durch niedrige Grundstückspreise im Umland und durch die Verdrängung von Wohnraum in den Innenstädten durch die Ansiedlung von Banken und globalen Handelsketten. Staatliche Förderungen machten den Bau von Einfamilienhäusern äußerst attraktiv, was allerdings einen enormen Flächenverbrauch mit sich brachte.
Die relative Anonymität der Menschen in ihrer Funktion innerhalb der Arbeitswelt benötigte als Gegenbild ein entsprechendes räumliches Umfeld um sich als Person, als Mensch mit eigenen Gefühlen und Bedürfnissen darstellen und abgrenzen zu können: zum Beispiel von jenen die in Reihen- oder Doppelhäuser oder gar in Geschosswohnungen wohnten.
Was die meisten Wohnungsgrundrisse, trotz aller Abgrenzungsversuche miteinander verbindet, ist die seit dem frühen 19. Jahrhundert zu beobachtende Funktionstrennung der unterschiedlichen Räume: Seit dieser Zeit werden die Räume einem bestimmten Zweck und bestimmten Personen zugewiesen.(18)
Wohnungen bestehen also auch aus Zeichensystemen, die uns sagen, wer wir sind und wer wir nicht sind. Wohnungen, in Eigentum oder in Miete vermitteln zwischen eigenen Gefühlen und jenen, die uns von unserer Arbeits- oder auch Freizeitwelt vermittelt werden.
Wohnen, sich different sehen, kann als eine Art kollektives Unterbewusstes beschrieben werden an dem alle Menschen gleichermaßen teilhaben wollen. Erst, wenn wir uns vom Anderen different sehen, erkennen wir uns selbst. Diese Selbsterkenntnis im eigenen Raum – die Wohnung als Spiegel des Selbst – wird besonders wichtig, wenn das Arbeitsumfeld zur Belastung wird. Eigene Räume werden in einer Zeit der globalisierten Ökonomie immer wichtiger, um sich selbst reflektieren zu können, ob nun mit der Familie gewohnt wird, mit Freunden, einem Partner oder alleine. Auch wenn man umzieht und seinen Lebensstil verändert, neue Wohnzimmermöbel anschafft, so behält man einige Gegenstände sein Leben lang, denn sie helfen die Identität den Anforderungen der neuen Umgebung anzupassen. In neue Lebens- und Arbeitsbedingungen muss man sich genauso eingewöhnen wie in eine neue Wohnumgebung.

Abweichungen von der Norm
Aneignungsmöglichkeiten von Wohnraum abseits gängiger Grundriss- und Bauformen wird in Zukunft an Bedeutung gewinnen wenn wir bedenken, dass für ältere Menschen der Wohnalltag zum Hindernis werden kann. Im Jahr 2030 wird der Grossteil der Bevölkerung zwischen 60 und 80 Jahre alt sein. Diese Prognose beeinflusst schon heute den gesellschaftlichen Diskurs über das Altern. Die Funktionen, die eine Wohnung bietet reichen nicht mehr aus, betrachtet man die Dienstleistungen, die rund ums Wohnen im Alter entstehen: Essenszustelldienste bringen Mahlzeiten, Wäsche- und Reinigungsdienste waschen die Wäsche, Fahrtendienste bringen ältere Menschen an Ziele, die sie selbst nicht mehr erreichen können. Bei Einsamkeit kann ein Besuchsdienst angefordert werden. Betreutes Wohnen will so viel Selbständigkeit wie möglich erhalten, aber auch so viel Hilfe wie nötig bieten. Geriatrische Tageszentren vereinen das Wohnen in den eigenen vier Wänden mit Betreuung, Unterhaltung, Körperpflege und Therapien. Seniorenresidenzen verweisen auf soziale Differenzierungen im Alter und bieten betreutes Wohnen auf gehobenem Niveau. Neue Pflegeformen bei denen Individualität und Autonomie im Vordergrund stehen sind Pflegewohnungen in familiärem Umfeld wo Alt und Jung gemeinsam zusammenwohnen sollen. Die Aneignung von Wohnraum ist im Alter an eine Vielzahl unterschiedlicher Bedürfnisse gebunden die über die reine Zur-Verfügung-Stellung von Wohnraum hinausgehen. Gleichzeitig müssen Wohnraum und Altersversorgung auch für die Zukunft gesichert bleiben.
Ob der Wohnraum nicht grundsätzlich ein Ort sein sollte, der den Menschen zumindest bis zu einer bestimmten Wohnungsgröße zur Verfügung gestellt werden soll, drängt sich beim Thema Armut und Obdachlose auf. 2005 lebten in Deutschland rund 345.000 Menschen ohne Wohnung. Besonders Frauen nehmen Hilfsangebote wie Frauenhäuser erst in allerletzter Konsequenz an. Steigende Mieten und inflationäre Wirtschaft drängen immer mehr Menschen in die Armutsfalle.

Eigene Räume und plurale Lebensstile
Die globalen Handlungspraxen der Arbeitswelt machen einen Wohnraum erforderlich, in dem wir uns wiedererkennen sollten. Die eigene Wohnung wurde zu einem Ort, an dem Probleme gelöst werden sollen, die uns in der Öffentlichkeit begegnen. Parallel zu dieser Trennung von privaten und öffentlichen Räumen bildet die Wohnung einen Ort zur individuellen Aneignung und Selbstdarstellung. Singlewohnen, mobiles Wohnen oder das Wohnen im Hotel sind zu selbständigen Lebensstilen geworden und verweisen auf einen neuen kulturellen Pluralismus. Die Brachen der schrumpfenden Städte (19) zeigen, dass der Anhäufung materiellen Besitzes Grenzen gesetzt werden, besonders dann, wenn viele prekäre Situationen am Arbeits- und Wohnungsmarkt durch wirtschaftliche Krisen verstärkt werden.
Die Entwicklung des Wohnbaus zielt vermehrt auf eine Mischung unterschiedlicher Nutzungen ab. Vermehrt wird darauf geachtet, sowohl unterschiedliche Wohnungsgrößen innerhalb eines Wohnkomplexes zu vereinen, als auch öffentliche Einrichtungen wie Restaurants, Seminarräume oder Bäder an Wohnanlagen anzubinden. Viele Architekten wollen einen vielschichtigen Wohnbau mit Zwischenräumen zur Verfügung stellen. Inhaltlich ist die Verknüpfung von Wohnen, Arbeiten und Freizeit aktuelles Thema im Wohnbau. Wohngebiete müssen Räume zur Verfügung stellen, wo sich die Menschen begegnen können, Räume in denen die Menschen abseits der globalen Beschleunigung Zeit finden.

(15) vgl. IKEA Kataloge, 1996, 1999 und 2008.
(16) Elisabeth Katschnig-Fasch: Möblierter Sinn. Städtische Wohn- und Lebensstile. Wien, Köln, Weimar 1998, S. 81.
(17) Wohnungen über 120m² sind zu 80% Eigentümerwohneinheiten, vgl. Statistisches Jahrbuch 2006, 281.
(18) Adelheid Saldern: Im Hause, zu Hause. Wohnen im Spannungsfeld von Gegebenheiten und Aneignung. In: Reulecke, Jürgen (Hg.): Geschichte des Wohnens. 1800 – 1918 Das bürgerliche Zeitalter. Stuttgart 1997, S. 175.
(19) vgl. Philipp Oswald (Hg.): Schrumpfende Städte. Berlin 2004.

 

Peter Laukhardt

Die hier so schön abgebildete amorphe Grazer Stadtsituation zeigt die obere Lagergasse, die man allerdings als Fortsetzung der Schiffgasse bezeichnen könnte.

Sa. 01/06/2013 3:21 Permalink
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