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„Inmitten der ziellosen Wanderschaft des
vorgeschichtlichen Menschen waren die Toten die ersten,
die dauernde Wohnung fanden.“
(Lewis Mumford, 1961)
In unserem Leben müssen wir uns an Dingen orientieren. Während darauf geachtet wird, dass zwischen Bett und Kleiderschrank genügend Platz zum Durchgehen frei bleibt, wird im engsten Sinne auch Gesellschaftsstruktur geplant – die Wohnung wird zur prägnanten Kulisse des Privaten, als Mikrokosmos unserer urbanen Umgebung. Die Stadt als Lebens- und Wohnraum bietet den Menschen die räumliche Grundlage um kulturelle Eigenheiten mittels symbolischer Gestalt vermitteln zu können.(2) Die Struktur der Wohnung, die Anordnung der Räume, ist genauso wie die Struktur der Stadt Spiegel der Gesellschaftsstruktur. Wir wohnen nicht nur in unserer Wohnung, wir bewohnen auch die Stadt, in der wir leben. Im Stadtplan wird die Struktur der Verwaltung (Rathaus, Justizgebäude, Arbeitsamt u.s.w.) genauso festgeschrieben wie die unterschiedlichen Wohnformen – das Hochhaus im Innenstadtbereich, verdichteter Flachbau, Mehrfamilienwohnhäuser oder Einfamilienhäuser am Stadtrand.
Die Wohnung der Nachmoderne stellt einen Raum dar, der die Belastungen des Alltagslebens so gut wie möglich ausgleichen soll. Anhand der Teilung in die beiden Sphären der privaten und öffentlichen Welt, wurden die Männer stärker dem öffentlichen, Frauen hingegen eher dem Privaten zugeteilt. Die Meinung, dass die Arbeitswelt belastet und die Wohnung entspannt, verläuft anhand geschlechtsspezifischer Grenzen. In neoliberalen Arbeitsverhältnissen sind jedoch auch Frauen gezwungen, Gefühle zu kontrollieren und innerhalb der Arbeit distanziert zu agieren. Ähnlich wie der Mann innerhalb der bürgerlichen Familie des späten 18. Jahrhunderts Entspannung und Stärkung in der häuslichen Atmosphäre schöpfen sollte, besteht diese Notwendigkeit heute für beide Geschlechter.
Frauen wie Männer sind heute vermehrt gezwungen, einen eigenen Raum für sich zu beanspruchen, um den Belastungen der Arbeitswelt standhalten zu können. Diese Tendenz, die für viele mit finanziellem Mehraufwand und geänderten Beziehungsformen einhergeht, lässt sich an der steigenden Anzahl von Singlehaushalten, Alleinerziehenden und Paaren mit getrennten Wohnungen festmachen. Die größten finanziellen Schwierigkeiten haben Alleinerziehende Mütter und Menschen, die alleine wohnen – rund 45% der Menschen dieser Wohnformen geben an, mit ihrem Einkommen ihren Lebensunterhalt nur schwer meistern zu können.(3) Vielfach wird der eigene Lebensstil so zum „Schuldigen“ des eigenen Scheiterns.
Die Menschen benötigen in der Nachmoderne vermehrt ihren eigenen Raum um ihre inneren Konflikte zu lösen. Konflikte, die entstehen weil unser Alltagsleben in verschiedene Inszenierungen eingebunden ist, die sich ständig wiederholen. Im Shopping Center, im Kino, im Urlaub oder aber auch am Arbeitsplatz selbst sind die Menschen angehalten, sich einer Inszenierung entsprechend zu verhalten. Die Wohnung wandelt sich deshalb vermehrt zu einem Ort, wo man so sein will wie man „wirklich“ ist.
Wie sich die Menschen seit den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts ihren Wohnraum angeeignet haben zeigt, dass die Beanspruchung eines eigenen Raumes stark an Bedeutung gewonnen hat. Noch im 19. Jahrhundert hatte das für den Großteil der Bevölkerung wenig Bedeutung. (4) Mit der Industrialisierung und dem Anwachsen der Bevölkerung, ist auch langsam ein besonderes Bedürfnis nach der Aneignung eines eigenen Wohnraumes entstanden.
Der Wohnbau insgesamt war wohl eines der größten Projekte der industriellen und nachindustriellen Gesellschaft. Um 1800 gab es in der westlichen Welt keine einzige Stadt mit mehr als einer Million Einwohnern, 1900 gab es bereits elf Millionenstädte. Im Jahr 2008 befinden sich zum Beispiel in Deutschland vier Millionenstädte – Städte sind zum Teil auch Ballungsräume geworden, die im Falle der Metropolregion Rhein-Ruhr bis zu zehn Millionen Menschen umfassen.(5) Vor allem der Wohnbau – von der Vorstadtsiedlung bis zum Wohnblock, vom Terrassenhaus bis zum Wolkenkratzer – lässt unsere urbanen Räume als „Global Cities“ erscheinen. Städte, die sich im globalen Wettbewerb befinden, sind nicht zuletzt auch im Wettstreit um die Wohn- und Lebensqualität.
Vom idealen Grundriss zum individuellen Eigenraum
So wie jede Wirtschaftsform auf der Makroebene eine bestimmte Stadtform erzeugt, erzeugt sie auf der Mikroebene einen bestimmten Wohnungsgrundriss. Die funktionale Anordnung der Räume in einer Wohnung organisiert und normiert nicht nur eine bestimmte Form des Zusammenlebens, sondern auch eine bestimmte Form sozialer und ökonomischer Reproduktion. Angesichts der stetig steigenden Wohnbaukosten wird befürchtet, dass es in Zukunft einerseits leerstehende Wohnungen geben wird und andererseits Obdachlose, die sich kein Dach über dem Kopf leisten können. Betroffen sind dabei sowohl die unteren Einkommensschichten, als auch Jungakademiker oder Beamte, deren finanzieller Spielraum nicht besonders groß ist.(6)
Die Entwicklung der Wohnungsgrundrisse ist Teil der Rationalisierung des 19. und 20. Jahrhunderts. Charakteristisch dafür ist der gesellschaftliche Diskurs über Fortschritt, Emanzipation und rationales Handeln.(7) Im Wohnbau dominierte der Baukörper über den Zuschnitt der Wohnungen und die einzelnen Räume und spiegelte sowohl die Merkmale des bürgerlichen Mietshauses des 19. und beginnenden 20. Jahrhundert, als auch die herrschenden gesellschaftlichen Fortschritts-Vorstellungen. Die Form der Grundrisse ergab sich durch die Addition der Räume, die bestimmte soziale Abläufe - vorwiegend die Familie betreffend - zum Anlass der Anordnung machten.(8) Die Ideologie der bürgerlichen Repräsentation wurde auch zur Grundlage der Bauordnung.
Im Gegensatz dazu standen die Bauten der Funktionalisten der 1920er Jahre. Für sie standen nicht soziale Abläufe im Vordergrund, sondern physische. Sie forderten das Planen von “innen nach außen”, also nicht in einen vorgegebenen Grundriss Wohnungen einzupassen, sondern anhand funktioneller Abläufe, den Bedürfnissen der Menschen entsprechend, den Bau “wachsen zu lassen”. Die wichtigsten Errungenschaften der neuen Architektur, die sich besonders auf die Wohnweise und Organisation des Grundrisses stützten, sind jedoch kaum oder nur rudimentär in den Kanon des neuen Bauens eingegangen. Nach den sozialen Umwälzungen durch den Ersten Weltkrieg und der Verschiebung der Machtverhältnisse zugunsten sozialer Bewegungen wurde der Wohnungsbau zum ersten Mal in der Geschichte als öffentliche Aufgabe gesehen, nicht aber freiwillig, sondern vor allem wegen des Zusammenbruchs des privaten Wohnungsbaus.(9)
Die meisten Grundrissideen waren schon in den 1920er Jahren erfunden worden.(10) Den klassischen Raumgruppengrundriss konzipierte Alexander Klein 1928. Die Grundlage bildete die Ausrichtung der Raumgruppe Wohnen mit Balkon nach Westen und die Raumgruppe Schlafen nach Osten. Walter Gropius verarbeitete den Raumgruppengrundriss in seinem Frankfurter Projekt und bei seinem Interbau-Beitrag. In dem sparsamen und tiefen Baukörper werden an einem langen schmalen Mittelgang Räume verschiedener Funktionen mechanistisch aufgereiht. Ludwig Hilbersheimer wendete den Kabinengrundriss für ein Mehrfamilienhaus an. Er beruft sich auf die rationelle Anwendung der Passagierkabine in Ozeandampfern. Die Erschließung der einzelnen Räume ist allerdings lediglich vom Wohnraum aus möglich. Bruno Taut hat 1920 schon auf die, von den Menschen vorgegebene, notwendige Wandlungsfähigkeit des Hauses hingewiesen. Ludwig Mies van der Rohe gelang es schließlich 1927, seine Idee von Wohnungen in Stahlskelett-Konstruktionen mit versetzbaren Wänden zu verwirklichen. “Sein Beitrag zur Weißenhofsiedlung in Stuttgart ist die veränderbare Wohnung bei gleichen konstruktiven Vorgaben. Vier, fünf und sechs Personen sind auf der gleichen Wohnfläche unterzubringen. Eric Freiberger baut Geschossebenen als unveränderliche Betonkonstruktion, in die Wohnungen nach freier Wahl eingebaut werden konnten.”(11)
Der Entwurf alternativer Grundrissformen war auch ein Versuch, gesellschaftliche Veränderungen zu beeinflussen. Dies inkludierte auch die Hoffnung auf Emanzipation. Es war die Idee einer besseren Welt, die den Menschen mit den Grundrissformen vermittelt werden sollte.
Die Nachkriegsjahre waren von einer effizienten Wohnungsproduktion in Fertig- und Plattenbauweise geprägt, um der herrschenden Wohnungsnot entgegen zu wirken. Diese Tendenz hielt bis zum Ende der 1960er Jahre an. In den 1970er Jahren lag der Schwerpunkt bei der Stadterweiterung und bei der Errichtung von Terrassenhäusern. Anders als die in den 1950er und 1960er Jahren gebauten Wohnhochhäuser sollten die Terrassenhaussiedlungen einen Wertewandel im Wohnungsbau darstellen. Sie wurden in der geistigen Tradition der 1968er Generation erbaut und standen für “Einheit und Vielfalt”. Das Konzept einer größtmöglichen Einbeziehung individueller Wünsche und der Versuch, neue soziale Formen städtischen Wohnens zu initiieren, kann als Brücke zu postmodernen Lebensformen gesehen werden. Die Botschaft der Grundrissformen und die des Bauwerkes selbst sind nicht mehr der unaufhaltbare Fortschrittsgedanke der modernen Welt. Trotz der gigantonomisch anmutenden Terrassenhäuser sollte dort die Nähe zur Natur im Vordergrund stehen, sie sollte einen Beitrag zur Auflösung der Dichotomie zwischen Natur und Technik liefern.(12)
Roland Rainer verfolgte den Anspruch, etwa in der gleichen Zeit als die Terrassenhäuser erbaut wurden, mit seiner stark verdichteten Siedlung Linz Puchenau den Bewohnern Nähe zur Natur und eigenen Freiraum zu bieten. “Durch Anwendung von viergeschossigen Spännertypen an der Straße, abfallend bis zu eingeschossigen Häusern an der Donau, ergibt sich eine dem Duktus der Landschaft folgende Siedlungsgestalt mit formaler und sozialer Durchmischung.”(13) Rainer meint, dass der Wohnungsbau nie das primäre Problem der Architektur gewesen sei, weil die Menschen nie den Anspruch auf eine architektonische Gestaltung gehabt hätten. Den Konflikt zwischen Architektur und Wohnbau führt Roland Rainer auf den übermäßigen Gestaltungswillen der Architekten zurück.(14)
(1) Der vorliegende Text ist eine in Teilen veränderte Fassung von: Manfred Omahna: Eigene Räume, in: Peter Janisch, Christina Heinz (Hg.): In Bewegung. Wie Alltag sich verändert, Veröffentlichungen des Freilichtmuseums Hessenpark, Frankfurt am Main: 2009, S. 18-25 und Manfred Omahna: Wohnungen und Eigenräume. Die Pluralität des Wohnens am Beispiel von Einpersonenhaushalten, Frankfurt am Main, Oxford u.a.: 2005.
(2) vgl. Lewis Mumford: Die Stadt. Geschichte und Ausblick. Frankfurt am Main 1979, S. 110.
(3) vgl. Statistisches Jahrbuch 2007, S. 555.
(4) Bauern, Heuerlinge, Landarbeiter, Tagelöhner, Industriearbeiter, Handwerker, kleine Angestellte und Unterbeamte hatten alle keinen eigenen Raum. vgl. Adelheid Saldern: Im Hause, zu Hause. Wohnen im Spannungsfeld von Gegebenheiten und Aneignung. In: Reulecke, Jürgen (Hg.): Geschichte des Wohnens. 1800 – 1918 Das bürgerliche Zeitalter. Stuttgart 1997, S. 147.
(5) vgl. Lewis Mumford: Die Stadt. Geschichte und Ausblick. Frankfurt am Main 1979, S. 617 und Statistisches Jahrbuch 2008, S. 38 und S. 39.
(6) vgl. Interview mit dem Obmann der Gemeinnützigen Bauvereinigung in: Die Presse, 7. Juni 1997.
(7) Dagmar Reese, Eve Rosenhaft, Carola Sachse u.a. (Hg.): Rationale Beziehungen? – Geschlechterverhältnisse im Rationalisierungsprozess, Frankfurt am Main: 1993, S. 9.
(8) vgl. Axel Schildt, Arnold Sywottek (Hg.): Massenwohnung und Eigenheim – Wohnungsbau und Wohnen in der Großstadt seit dem ersten Weltkrieg, Frankfurt am Main/New York: 1988, S. 541.
(9) vgl. ebd. S. 545.
(10) vgl. Reinhard Gieselmann: Entwicklung des Wohnungsgrundrisses, in: Friederike Schneider: Grundrißatlas – Wohnungsbau, Basel Boston Berlin: 1997, S. 17.
(11) vgl. ebd.
(12) vgl. Elisabeth Katschnig-Fasch: Möblierter Sinn – Städtische Wohn- und Lebensstile, Wien/Köln/Weimar: 1998, S. 126
(13) Reinhard Gieselmann: Entwicklung des Wohnungsgrundrisses, in: Friederike Schneider: Grundrissatlas – Wohnungsbau, Basel Boston Berlin: 1997, S. 21.
(14) Gespräch mit Roland Rainer, Wien: 1998.
Datum:
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Kommentare
Infobox
Manfred Omahna, Mag.phil. DI. Dr. Geb. 1970. Studium der Kulturanthropologie, Geschichte und Philosophie an der Karl-Franzens-Universität Graz und Studium der Architektur an der Technischen Universität Graz. Lehrbeauftragter an der KF-Uni Graz und an der TU Graz.
Forschungsschwerpunkte:
- Urban- und Wohnforschung
- Soziale und kulturelle Distinktion
- Globalisierung
- Feldforschung
- Handlungstheorie und -praxis
- Handwerk
Schiffgasse
Die hier so schön abgebildete amorphe Grazer Stadtsituation zeigt die obere Lagergasse, die man allerdings als Fortsetzung der Schiffgasse bezeichnen könnte.