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Sonntag
Wie die 'Grazer Schule' zweimal erfunden worden ist

Schulschluss

1993 muss Friedrich Achleitner feststellen, dass die „Grazer Schule“ der Vergangenheit angehört. Ohne zu erwähnen, dass der Begriff nicht nur von ihm stammt, sondern von ihm auch zweimal mit höchst unterschiedlichen Bedeutungen aus der Taufe gehoben worden ist, meint er in einer Mischung aus Verteidigung, Schuldbekenntnis und Entschuldigung: „Solche Namensgebungen entstehen oft zufällig, nebenbei, aus Verlegenheit oder aus dem Notstand, eine Abgrenzung vornehmen zu müssen. Für das Phänomen selbst sind sie meist irritierend, wenn nicht tödlich. Das berühmteste Beispiel gaben wohl Henry-Russel [sic!] Hitchcock und Philip Johnson mit ihrer Ausstellung ‚The International Style’, die Geburt eines Stiles war auch sein Begräbnis. Man kann also behaupten, daß solche Benennungen, so notwendig oder unnötig sie oft sind, gerade durch den Versuch einer Bestimmung die Auflösung ihres Gegenstandes betreiben.“ [49] Diese Auflösung hätten aber die Benannten selbst betrieben, seien doch 1981 bei der Ausstellung im Grazer Künstlerhaus 54, drei Jahre später im Forum Stadtpark nur mehr 17 Architekten beteiligt gewesen, von denen man heute einige „sicher nicht mehr zur ‚Schule’ rechnen würde.“ [50]

Dennoch unternimmt Achleitner ein letztes Mal den Versuch, die „Grazer Schule“ (die er jetzt lieber „Szene“ nennt) [51] zu definieren, wobei er jetzt nicht mehr dem Expressionismus das Primat zuerkennt, sondern die Schule in vier gleichberechtigte Klassen (Achleitner nennt sie „Fraktionen“) aufteilt: eine „funktional, sozial und bautechnisch orientierte Gruppe“ (Ferdinand Schuster, das Team A, die Werkgruppe Graz); eine regionalistische Gruppe; die „urbanen und technischen Utopisten, die Revoluzzer aus den Zeichensälen, [...] die auf ihren strukturellen Ansätzen beharren und dem Handschriftlichen gegensteuern“; und „schließlich die Individualisten“, die „in Eruptionen, Explosionen“ sich äußern. [52]

Der heiklen Frage der Chronologie weicht Achleitner aus – „Prioriätsstreitigkeiten“ würde jedes „Treibhausklima“ erzeugen. Eine „Wurzel der Grazer Schule“ liegt für ihn im „Realisierungsdruck oder Realisierungswillen dieser Tagträume“ – gemeint sind die utopischen Entwürfe aus den Zeichensälen. Die Überbauung Ragnitz von Domenig und Huth habe durch ihre „Nähe zur Realisierbarkeit“ erst jene „Schockwirkung“ ausgelöst, die nötig war, um aus den Visionen gebaute Realität werden zu lassen. [53] Mit dieser Konstruktion versucht Achleitner seine utopisch planende „erste“ mit der real bauenden „zweiten Grazer Schule“ zu verbinden, ohne sich abschließend den Hinweis auf die „sprichwörtliche ‚Sprachlosigkeit’“ und „Theoriefeindlichkeit“ der Grazer Architekten verkneifen zu können, deren „gepflegte[s] ‚Urlallen’ [...] an eine Art intellektuellen Hungerstreik“ [54] grenze. Damit hat einmal mehr das (Wiener) Klischee von den „wilden Steirerbuam“ den theoretischen Anspruch der ersten „Grazer Schule“ verdrängt.

[49] Friedrich Achleitner, Gibt es eine „Grazer Schule“? [1993], in: ders., Region, ein Konstrukt? Regionalismus, eine Pleite?, Basel u. a. 1997, 79–99, hier 79.
[50] Ebd.
[51] Ebd., 98.
[52] Ebd., 80.
[53] Ebd., 81.
[54] Ebd., 98.

Verfasser / in:

Anselm Wagner

Datum:

Sun 10/03/2013

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Der Essay wurde der Publikation "Was bleibt von der "Grazer Schule"? Architektur-Utopien seit den 1960ern revisited" (S. 55-73), die 2012 von Anselm Wagner und Antje Senarclens de Gracy im Jovis Verlag herausgegeben wurde,  mit freundlicher Genehmigung des Verlags sowie von Anselm Wagner  zur Wiederveröffentlichung auf www.gat.st entnommen. Am kommenden Sonntag erscheint in der Reihe "sonnTAG" der Essay "Konkrete Utopie *)-- Positionen aus Graz 1965-68" von Konrad Frey aus eben dieser Publikation.

Anselm Wagner leitet das Institut für Architekturtheorie, Kunst- und Kulturwissenschaften der TU Graz

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