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Bemerkenswert ist auch, dass Achleitner der „Grazer Schule“ nun meist das Adjektiv „sogenannte“ [35] voranstellt, so als wollte er sich von diesem unscharf gewordenen Begriff, den er selbst erfunden hat, nachträglich distanzieren, oder einmal mit „was immer das sein mag“ [36] als allzu vage abqualifiziert. Auf jeden Fall bilden für ihn das Revolutionäre, Expressive und Individualistische das Leitmotiv der offenbar zur Gruppen- und Schulbildung ungeeigneten „Grazer SchülerInnen“, sodass Achleitner den Schulbegriff nur als Paradoxie, als etwas „Sogenanntes“ aufrecht erhalten kann: „Während die Arbeiten der ‚Werkgruppe Graz’ [...] und des ‚Team A Graz’ [...] schon allein durch die Gruppenstruktur der Büros eher zu Ausgewogenheit und Synthese neigen, sind die Temperamente der sogenannten ‚Grazer Schule’ in einer Gegenposition zur akademischen Moderne. Dieses rebellische Potential hat heute bereits seine Geschichte und wurde schulbildend. Es entwickelte sich an der Funktionalismuskritik der frühen sechziger Jahre, an den städtebaulichen Utopien und orientierte sich zunächst an der Opposition gegen die Mies-van-der-Rohe-Schule, also am expressiv-plastischen ‚Brutalismus’ eines Walter M. Förderer oder an der fast rituell-kreativen Befreiungsarchitektur eines Christian Hunziker. Hier liegen wohl die Wurzeln für die expressiven ‚Personalstile’ (Domenig, Kowalski, Szyszkowitz) als auch für die sozialen Komponenten architektonischer Mitbestimmungsmodelle (Huth).“ [37]
Im Bemühen, die gesamte Grazer Architekturproduktion unter den Hut der „Grazer Schule“ zu bringen, muss für selbst so Gegensätzliches wie den architektonischen Gestaltungsverzicht des partizipativen Wohnbaus und den Gestaltungsdrang „expressiver Personalstile“ ein gemeinsamer Ursprung benannt werden.
Qualitätsmarke ohne Eigenschaften oder Schule des Antischulischen
Als das Forum Stadtpark 1984 eine internationale, bis in die USA weiter gereichte Wanderausstellung zur Grazer Architekturszene organisiert, verwendet man zwar aus werbetechnischen Gründen das mittlerweile eingeführte Label „Grazer Schule“, setzt aber den unzutreffend gewordenen Schulbegriff unter Anführungszeichen: Architektur-Investitionen. Grazer „Schule“. 13 Standpunkte lautet der umständliche, einen wohl mühsamen Einigungsprozess widerspiegelnde Titel. Ansonsten wird nach außen Geschlossenheit demonstriert: Anstelle der vormals rund 50 sind jetzt nur mehr 13 Architekturbüros vertreten, unter ihnen nun auch Hafner sowie seine ehemaligen Mitstreiter Konrad Frey und Helmut Richter/Heidulf Gerngross. [38] Auf dem Katalogcover sind nicht mehr bunt gemischte Entwürfe zu sehen, sondern ein Gruppenbild mit Dame, um den Anschein zu erwecken, es würde wirklich eine Gruppe von ArchitektInnen geben, die sich „Grazer ‚Schule’“ nennt.
Dabei wollen einige der hier Beteiligten sehr bald vom Label „Grazer Schule“ nichts mehr wissen und verbindet viele von ihnen innige Feindschaft. Im Einleitungstext gibt man freilich zu, dass die ursprüngliche „Grazer Schule von Architekturprojekten“ durch ihren Exodus zum Verlust der Homogenität geführt habe und man deshalb von „einer ‚Grazer Schule’ der Architektur [...] unter diesen Umständen im Sinne einer gemeinsamen Architekturtheorie nicht mehr sprechen“ [39] könne: „Unsere Gruppe ist bewußt keine ‚Gruppe’. Das sind Rationalisten, Logiker und Ästheten; Magengrubenarchitekten; Demokraten, Mediakraten und Mediokraten, aber keine Führer und keine Geführten.“ Da sich selbst Achleitners Expressivitätskriterium als unzureichend erwiesen hat, wird nun ein spezifischer „Grazer Qualitätsanspruch“ und ein „geistiges Klima“ zur Essenz der „Grazer Schule“ erklärt. [40]
Ähnlich äußert sich auch Michael Szyszkowitz in seinem Beitrag zum 1. Österreichischen Architektentag desselben Jahres, in dem er auf die Ausstellung im Forum Stadtpark Bezug nimmt: Die Unterschiedlichkeit der einzelnen Standpunkte werde dadurch zum Ausdruck gebracht, dass man nur mehr die „Schule“ unter Anführungszeichen setze. „Dies deshalb, als man im Gegensatz zur Situation der Aufbruchstimmung der 60er Jahre und einer damals von Studenten propagierten Lehrmeinung, heute von geänderten Gemeinsamkeiten ausgehen muß. Waren es damals unsere heftigen und schnellen Reaktionen auf die internationalen Tendenzen [...] und waren die tragenden Merkmale die urbanen Utopien, und verbreitete sich fast homogen die Überzeugung von einer strukturalistischen Lösung, so präsentiert sich nun eine gemeinsame Position trotz individueller und vielfältiger Auslegung tatsächlich in anderen Bereichen: Einmal ist von der einstmals facettenreichen, jedoch allen gemeinsamen Architekturtheorieeine Art arteigener Qualitätsanspruch geblieben. (Er könnte als das traditionelle Element der Grazer Schule bezeichnet werden.)“ [41] Weiter führt Szyszkowitz als einziges inhaltliches, wenn auch negatives Kriterium das Freibleiben „von Architekturbegriffen der Postmoderne und anderer moderner Ismen, aber auch von jenen der Wiener Tradition“ an, [42] sowie auf persönlicher Ebene den gegenseitigen Respekt und das „kollektive [...] Arbeiten von Subjektivisten“ durch deren Engagement in der Zentralvereinigung der Architekten und im Forum Stadtpark. [43] Daraus lässt sich schließen, dass man trotz aller Differenzen wohl erkannt hat, dass man sich unter der eingeführten, wenn auch inhaltsleeren Qualitätsmarke ohne Eigenschaften gut verkaufen kann. Oder wie es Eilfried Huth heute formuliert: Man habe den umstrittenen Begriff „Grazer Schule“ für die Forumausstellung bewusst gewählt, um zu provozieren, denn „keiner wollte dazugehören, aber alle wollten dabei sein.“ [44]
Um der zunehmenden Kritik entgegenzutreten, wird für die dritte, erweitere Auflage der Architektur-Investionen wieder publizistische Schützenhilfe aus Wien geholt: Diesmal ist es nicht Friedrich Achleitner, sondern dessen Mitarbeiter Dietmar Steiner, der einen Essay beisteuert, in dem er die „Grazer Schule“ als eingeführte Marke verteidigt und ungeachtet des pluralistischen Selbstverständnisses ihrer Protagonisten den Ruf der Grazer als den „Neuen Wilden“ der Architektur auf Spitze treibt: So habe die „Grazer Schule [...] auch einen architekturpublizistischen ‚News’ Wert, ist ein wieder erkennbarer Markenartikel, mit den Attributen des Wilden, Antischulischen, Anti-Intellektuellen, Sprachlosen, Kämpferischen.“ [45] Diese Charakterisierung trifft – wenn überhaupt – nur auf Günther Domenig zu, den Steiner schon vorher in einer Rezension zum „Vater“ der „Grazer Schule“ ernannt hat. [46]
Das eklatante Auseinanderklaffen von Selbstbild und Fremdbild der „Grazer Schule“ zeigt, wie sehr sich der Begriff spätestens seit Mitte der 80er Jahre verselbständigt hat und aus der jeweilig aktuellen Perspektive beinahe beliebig mit Inhalten gefüllt werden kann. Steiner sieht die Grazer in ihrer „Wildheit“ etwa in der Nähe der später als Dekonstruktivisten bezeichneten Frank Gehry und Zaha Hadid, aber auch von Rem Koolhaas.
Eine konträre Position bezieht Peter Weibel, der 1996 erstmals die Gruppe um Hafner wieder in den Vordergrund stellt und ihr gegenüber den späteren Entwicklungen den Vorzug gibt. Mit ihrer „urbanistischen Architekturauffassung, die sich an dynamischen Systemen, also an der Stadt orientierte und nicht an vom Modell Haus ausgehenden archaischen Archetypen, begann eine Linie, die mit den später entstehenden Theorien der Komplexität, der Fraktale und des Chaos zum heute dominierenden Architekturparadigma wurde (Peter Eisenman, Rem Koolhaas, siehe ‚Delirious New York’, 1978).“ [47] Auch hier wird ein Bezug zum damals aktuellen Dekonstruktivismus hergestellt, der aber eine ganz andere, wesentlich systemorientiertere Bedeutung bekommt. Diese Argumentation fällt in Weibels allgemeine Agenda dieser Jahre, das progressiv-intellektuelle gegen das in den 80ern eher bevorzugte konservativ-expressive Österreich zu verteidigen; so zieht er etwa auch eine Parallele zwischen dem „intellektuellen Urbanismus“ der Hafnergruppe und der logik- und sprachanalytischen Grazer Schule der Philosophie rund um Rudolf Haller. [48]
[35] Achleitner 1983 (wie Anm. 33), 122, 342.
[36] Ebd., 131.
[37] Ebd., 342.
[38] Die weiteren TeilnehmerInnen sind Günther Domenig, Hermann Eisenköck, Volker Giencke, Ernst Giselbrecht, Eilfried Huth, Klaus Kada, Gerhard Kreutzer/Günther Krisper, Fritz Matscher/Irmfried Windbichler, Michael Szyszkowitz/Karla Kowalski und Heinz Wondra. Für Katalog und Plakat zeichnen Ernst Giselbrecht und Eilfried Huth, für die Ausstellung Hermann Eisenköck, Klaus Kada und Gerhard Kreutzer verantwortlich.
[39] urturm, Zur Situation, in: Architektur-Investitionen. Grazer „Schule“. 13 Standpunkte, Ausst.-Kat. Forum Stadtpark, Graz 1984, 6 f, hier 6.
[40] Ebd.
[41] Michael Szyszkowitz, Architektur aus Graz. Standpunkte aus der Grazer Schule, in: Bundes-Ingenieurkammer, Bundesfachgruppe Architektur (Hg.), Reflexionen und Aphorismen zur österreichischen Architektur. Idee, Konzeption, Zusammenstellung und Gestaltung: Viktor Hufnagl, Wien 1984, 205–213, hier 205.
[42] Ebd., 206.
[43] Ebd., 205.
[44] Eilfried Huth im Gespräch mit Anselm Wagner, Graz, 31.05.2012.
[45] Dietmar Steiner, in: Architektur-Investitionen. Grazer „Schule“. 13 Standpunkte, Ausst.-Kat. Forum Stadtpark, 3. Aufl. Graz 1986, o. P.
[46] Dietmar Steiner, „Grazer Schule“ oder „13 Standpunkte“? Auf jeden Fall: „Architektur-Investitionen“!, in: Wettbewerbe 39 (1984), 8. Als zweiten „Vater“ bezeichnet er Eilfried Huth, auf den die obige Charakterisierung aber gar nicht mehr zutrifft.
[47] Weibel 1996 (wie Anm. 27), 109.
[48] Ebd., 112.
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Infobox
Der Essay wurde der Publikation "Was bleibt von der "Grazer Schule"? Architektur-Utopien seit den 1960ern revisited" (S. 55-73), die 2012 von Anselm Wagner und Antje Senarclens de Gracy im Jovis Verlag herausgegeben wurde, mit freundlicher Genehmigung des Verlags sowie von Anselm Wagner zur Wiederveröffentlichung auf www.gat.st entnommen. Am kommenden Sonntag erscheint in der Reihe "sonnTAG" der Essay "Konkrete Utopie *)-- Positionen aus Graz 1965-68" von Konrad Frey aus eben dieser Publikation.
Anselm Wagner leitet das Institut für Architekturtheorie, Kunst- und Kulturwissenschaften der TU Graz