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Sonntag
Wie die 'Grazer Schule' zweimal erfunden worden ist

Dieser insgesamt neun Seiten umfassende Part bildet gewissermaßen die Einleitung. Den 13 Seiten zählenden Hauptteil widmet Hafner seiner eigenen Arbeit, beginnend mit seinem Manifest Space, Time and Architecture? Raumzeit Architektur!, das er erstmals 1966 anlässlich seiner Ausstellung Struktureller Städtebau in der Neuen Galerie Graz veröffentlicht hat, gefolgt von seinen 1963 einsetzenden strukturalistischen „Archegrammen“, in die neben den eigenen auch Arbeiten von Gerhart Fritz, Horst Jürgen Lenz, Heidulf Gerngross, Helmut Richter und Horst Hönig eingebaut sind. Auf den letzten acht Seiten, die den Schluss des Heftes bilden, werden dicht gedrängt zahlreiche Entwürfe von Wolfgang Fritz Bergmann, Bernd Capra, Konrad Frey, Heidulf Gerngross, Peter Hellweger, Horst Hönig, Helmut Richter und Götz Sack-Therwal präsentiert. [23] Die letzte Seite des redaktionellen Teils nimmt Freys provokant utopischer Beitrag zur Volksbefragung über die Gestaltung der Rathausfassade in Graz ein, der auf Gartlers und Rieders vertikale Stadt am Beginn antwortet und auch der vorliegenden Publikation als Covermotiv dient.

Die Graznummer des Bau stellt gewissermaßen das eigentliche Gründungsdokument der „Grazer Schule“ dar und enthält zunächst alles, was eine Schule ausmacht: einen Leiter (Hafner), Schüler (Architekturstudenten der TH Graz), eine Theorie (strukturalistische Raum-Zeit-Architektur) und eine Institution (die Architekturzeichensäle der TH Graz). Zugleich hat diese Schule aber bereits schon wieder aufgehört zu existieren, da ihre Mitglieder die Institution verlassen und Richtung Westen emigriert sind (Hafner, Capra, Gerngross, Richter und Hönig nach Los Angeles, Frey nach London, Rieder nach Paris). Hafners Darstellung seiner „Schule“ gleicht daher mehr einer Rekonstruktion, und er stellt im Editorial auch deren Intention dar: Es geht darum, seine „Schule“ nachträglich zu patentieren, um deren Ideen vor den meist älteren Nachahmern zu schützen, die in Graz geblieben sind und – im Gegensatz zur „Schule“ – aufgrund ihrer längeren Büropraxis bereits erste Erfolge vorweisen können, und zwar mit Projekten, die in Hafners Augen denen seiner „Schule“ allzu sehr ähneln. Obwohl die von ihm zusammengestellten Studentenarbeiten „meist erfolglos waren“, hat „die Entschlossenheit“ ihres „Angriffs zuletzt wenigstens etwas lokalen Einfluß auf kammersanktioniertes Architekturtum gehabt; meist äußerte er sich allerdings im Missverstehen der Entstehungsgesetze ‚unserer’ Projekte, speziell, in einem rein äußerlich-formalen Imitieren. Schließlich fand das Projekt Ragnitz der Planungsgruppe Domenig-Huth, das fundamentales Material der Ausstellung Struktureller Städtebau formal interpretierte, unlängst internationale Anerkennung.“ [24] Hafner empfindet das mit dem Grand Prix von Cannes prämierte Strukturprojekt Überbauung Ragnitz wohl als eine Art Plagiat, und er verweist auf die Ausstellungen von ihm und seinen Studienkollegen 1965 in Kapfenberg (Junge Architektur, geleitet vom TH-Graz-Professor Ferdinand Schuster) und 1966 in Graz (Struktureller Städtebau), um sich post festum das Urheberrecht für die „Strukturelle Architektur“ [25] der „Schule“ zu sichern. Domenig und Huth und die von Hafner nicht erwähnte Werkgruppe Graz sahen und sehen das naturgemäß anders; ihre Hinwendung zum Strukturalismus wäre nicht nur von ihren jüngeren Kollegen an der Hochschule, sondern genauso von deren gemeinsamer Inspirationsquelle, den Utopien von Yona Friedman und Archigram, ausgelöst worden. [26]

Die zweite Erfindung der „Grazer Schule“

In den späten 60er und den 70er Jahren befinden sich Lehrer und Schüler der „Grazer Schule“ also im „Exil“, während die daheim gebliebene ältere und jüngere Architektengeneration deren Erbe antritt. 1980 kehrt Hafner aus den USA zurück und muss nicht nur diese Weiterentwicklung zur Kenntnis nehmen, sondern auch, dass im selben Jahr mit Günther Domenig sein Antipode zum Professor an die Grazer TH berufen wird, um dort schulbildend zu wirken. Domenig hat zwar zusammen mit Huth einige Zeit lang mit Megastrukturen experimentiert, entwickelt sich aber immer mehr in Richtung eines individualistischen und expressiven Architekturverständnisses und leitet seine Entwürfe ähnlich wie die Wiener Künstlerarchitekten (Hans Hollein, Walter Pichler, Haus-Rucker-Co, ...) „nicht von der Stadt, sondern von der zeitgenössischen Skulptur“ ab, wie Peter Weibel 1996 schreibt. [27] Berühmteste Beispiele dafür sind in den 70er Jahren die Mensa der Schulschwestern in Graz-Eggenberg (1973–1977) und die Filiale der Zentralsparkasse in Wien-Favoriten (1975–1979). Auch wenn Domenig in späteren Projekten wie der Wohnanlage Neufeldweg (1989) [28] und dem Resowi-Zentrum der Grazer Universität (1993–1996) eine Megastruktur andeutet, in welche die Räume einge hängt sind, interessiert sie ihn in erster Linie aus formalästhetischen Gründen. Weibel ortet in Graz deshalb einen „Widerstreit zwischen formalistisch-gestischer und konzeptionell-methodischer Schule“, wobei erstere – namentlich erwähnt Weibel Michael Szyszkowitz und Karla Kowalski – im Laufe der 70er Jahre durch eine Reihe realisierter Bauten und das „Vakuum, das von den ‚Emigranten’ hinterlassen wurde“, die Oberhand gewinnt. [29] 1980 gilt auch insofern als Wendejahr, als es den Startschuss für das „Modell Steiermark“ im geförderten Wohnbau markiert, womit anspruchsvoller und innovativer Architektur großflächig zur Realisierung verholfen wird. [30]

1981 veranstaltet der steirische Landesverband der Zentralvereinigung der Architekten Österreichs im Grazer Künstlerhaus eine Ausstellung über Architektur aus Graz. Als Organisatoren beziehungsweise Redakteure des Katalogs treten Michael Szyszkowitz (Diplom 1970) und sein Mitarbeiter Ernst Giselbrecht (Diplom 1979) sowie der noch zu Hafners Generation gehörende Herbert Missoni (Diplom 1965) vom Team A auf. Letzteren hatten Prader und Fehringer zur „Grazer Schule“ gezählt; in Hafners Bau-Nummer war er aber nicht vertreten gewesen. Die über 50 TeilnehmerInnen der Künstlerhausausstellung umfassen nicht nur fast vier Generationen, sie decken auch so ziemlich alle architektonischen Strömungen ab, die es damals in Österreich gab. Von der „ersten Grazer Schule“ sind Frey, Gartler, Gerngross, Hellweger, Hönig und Richter dabei; Hafner fehlt. Von einer Gruppenidentität keine Spur – und diese Heterogenität zeigt auch ehrlicherweise das Titelbild, das einen leicht postmodern anmutenden, aber sonst spätmodernistischen Entwurf des Teams A zwei skulptural-organischen Zeichnungen von Günther Domenig und Michael Szyszkowitz gegenüberstellt. Die letztere Tendenz (die hier mit 2:1 führt) ist aber sicherlich die damals auffälligere und originellere gewesen, vor allem aus Wiener Perspektive, wo Domenigs Zentralsparkasse als unfriendly alien ihr tremendum et faszinosum verbreitete.

Friedrich Achleitner, der einen Katalogessay mit dem Untertitel Einige Behauptungen zur „Grazer Schule“ beisteuert, der bis heute als vermeintliches Gründungsmanifest der „Grazer Schule“ kursiert, vollzieht einen Kurswechsel von 180 Grad und definiert die „Grazer Schule“ komplett neu: Ihr eigentliches Charakteristikum sieht er nun in diesem skulpturalen Architekturbegriff! Es herrsche „generell ein starker ästhetischer Subjektivismus, expressiv in Formen- und Gebärdensprache, individualistisch selbst dort, wo es sich scheinbar um kollektive Planungsprozesse handelt“ [31] – und dies sind die zentralen kollektive Planungsprozesse handelt“ [31] – und dies sind die zentralen Eigenschaften, die bis heute mit der „Grazer Schule“ verbunden werden. Hafners Eingliederung des Individuellen in eine ganzheitliche Struktur, in der Achleitner 14 Jahre vorher das Charakteristikum der „Grazer Schule“ erblickt hatte, ist somit in ihr Gegenteil verkehrt worden. Wohl wissend, dass der Schulbegriff mit dem expressiven, latent theoriefeindlichen Subjektivismus schwer vereinbar ist, fügt Achleitner hinzu, Graz habe „sich, um es paradox auszudrücken, als Schuledas Antischulische bewahrt.“ [32]

Dass Achleitner den durch die Postmoderne aus der Mode gekommenen Strukturalismus dem Expressionismus opfert, hat wohl auch mit der allgemeinen künstlerischen Situation um 1980 zu tun, die mit dem Aufkommen der Neuen Wilden Malerei eine Neuauflage des Expressionismus erlebt und mit Hubert Schmalix und Erwin Bohatsch zwei wesentliche Grazer Vertreter und im Neue-Galerie-Leiter Wilfried Skreiner ihren hierzulande wichtigsten Förderer besitzt. 1981 vollzieht sich also die zweite Geburt der „Grazer Schule“ aus dem Geist der Neuen Wilden. Dies ist ein ganz klarer Fall von preposterous history, von Geschichtskonstruktion aus einer sehr gegenwartsbewussten Perspektive.

1983, als Achleitner den zweiten, unter anderem der Steiermark gewidmeten Band seiner monumentalen Österreichischen Architektur im 20. Jahrhundert herausgibt, wird dort die Neudefinition der „Grazer Schule“ fortgesetzt und durch den bis heute unbestrittenen Rang dieses Standardwerkes gewissermaßen kodifiziert. Dabei unterläuft dem sonst so akribisch genauen Architekturhistoriker ein kleiner, wenn auch bezeichnender Lapsus: So wird Ferdinand Schuster „zum kritischen Gesprächspartner [...] für jene revoltierenden Gruppen in den Zeichensälen der Technischen Hochschule, aus denen dann die sogenannte ‚Grazer Schule’ hervorging, die von Günther Domenig und Eilfried Huth bis zu Karla Kowalski und Michael Szyszkowitz reicht [...].“ [33] Die Tatsache, dass Domenig und Huth bereits 1959 beziehungsweise 1956 die Hochschule verlassen hatten und den erst 1964 an die Hochschule berufenen Schuster und seinen Dialog mit den „Zeichensaalrevolutionären“ rund um – den nun nicht mehr erwähnten – Hafner nur von außen beobachten konnten, fällt dem neuen Narrativ einer durchgehend expressionistischen Genealogie der „Grazer Schule“ zum Opfer. Dazu gehört auch die Hochstilisierung des studentischen Aufbruchs in den Zeichensälen zur „Revolution“ à la 68 – auch das ein Mythos, der sich bis heute hartnäckig hält, obwohl ihm gewichtige Zeitzeugen widersprechen. [34]

[23] Für die Mitteilung der im Bau nicht erwähnten Vornamen jener Architekten, die heute nicht mehr bekannt sind, danke ich Bernhard Hafner sehr herzlich.
[24] Bernhard Hafner, [Editorial], in: Bau. Schrift für Architektur und Städtebau 24 (1969), H. 4/5, 26.

[25] Ebd.
[26] Vgl. die Beiträge von Eugen Gross und Eilfried Huth in diesem Band.
[27] Peter Weibel, Zur steirischen Architekturszene. Zwischen Konzeption, Formalismus und Pragmatik, in: Alexandra Foitl/Christa Steinle (Hg.), Styrian Window. Ein Handbuch zur Gegenwartskunst der Steiermark, Graz 1996, 108–114, hier 108 f.
[28] Vgl. den Beitrag von Karin Tschavgova in diesem Band, 180–192.
[29] Weibel 1996 (wie Anm. 27), 109.
[30] Wie Anm. 28.
[31] Friedrich Achleitner, Mit und gegen Hauberrisser? Einige Behauptungen zur „Grazer Schule“, in: Zentralvereinigung der Architekten, Landesverband Steiermark (Hg.), Architektur aus Graz, Ausst.-Kat. Grazer Künstlerhaus, Graz 1981, 6 f, hier 7.
[32] Ebd.
[33] Friedrich Achleitner, Österreichische Architektur im 20. Jahrhundert. Ein Führer in drei Bänden, Bd. II, Kärnten, Steiermark, Burgenland, Salzburg-Wien 1983, 342.
[34] „Revolution in den Zeichensälen“, ebd., 118. Nach Achleitners Vorbild nennt auch Peter Blundell Jones ein ganzes Kapitel „The Studio Revolution“ (wie Anm. 2), zitiert aber redlicher Weise Aussagen von Konrad Frey und Eugen Gross, welche die Existenz einer Revolution in Abrede stellen beziehungsweise eine „Revolution in den Köpfen“ schon in den späten 50er Jahren beginnen lassen (ebd., 80, Anm. 1 und 2).

Verfasser / in:

Anselm Wagner

Datum:

Sun 10/03/2013

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Infobox

Der Essay wurde der Publikation "Was bleibt von der "Grazer Schule"? Architektur-Utopien seit den 1960ern revisited" (S. 55-73), die 2012 von Anselm Wagner und Antje Senarclens de Gracy im Jovis Verlag herausgegeben wurde,  mit freundlicher Genehmigung des Verlags sowie von Anselm Wagner  zur Wiederveröffentlichung auf www.gat.st entnommen. Am kommenden Sonntag erscheint in der Reihe "sonnTAG" der Essay "Konkrete Utopie *)-- Positionen aus Graz 1965-68" von Konrad Frey aus eben dieser Publikation.

Anselm Wagner leitet das Institut für Architekturtheorie, Kunst- und Kulturwissenschaften der TU Graz

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