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Das Label „Grazer Schule“ ist bis heute umstritten. Genauso, wie es sich im Architekturdiskurs und darüber hinaus eingebürgert hat, ist es üblich geworden, sich im gleichen Atemzug wieder davon zu distanzieren. Das beste Beispiel dafür ist Günther Domenig, der international bekannteste Vertreter der „Grazer Schule“. Anlässlich eines Interviews im Jahr 2003 tut er diesen Begriff als eine „falsche Bezeichnung“ und eine „Erfindung Achleitners“ ab. [1] Da unter den „Grazer SchülerInnen“ keinerlei stilistische oder programmatische Gemeinsamkeiten festzustellen seien, solle man den Terminus lieber aufgeben und durch das neutralere „New Graz Architecture“ ersetzen – so der Vorschlag von Peter Blundell Jones, der die Grazer Architekturszene seit 1988 durch zahlreiche Artikel in The Architectural Review international bekannt gemacht und 1998 die bislang umfangreichste Monografie zum Thema verfasst hat. [2]
Der folgende Beitrag versucht zu erklären, warum das Etikett „Grazer Schule“ so wenig zutrifft. Die Lösung scheint relativ einfach, ist in der bisherigen Literatur aber immer geflissentlich übersehen worden: Die „Grazer Schule“ wurde nämlich zweimal, einmal Ende der 1960er und dann wieder Anfang der 1980er Jahre, erfunden. Bei der ursprünglichen Benennung bezeichnete der Begriff eine kleine, programmatisch homogene, an der Grazer Technischen Hochschule angesiedelte Gruppe – und damit war das Etikett plausibel und korrekt. 1981 erfolgte allerdings eine Umetikettierung, eine Erweiterung dieses Begriffs auf sämtliche bemerkenswerte Architektur, die seit den 1960er Jahren von Grazer ArchitektInnen hervorgebracht worden war, und verlor damit seine Aussagekraft. Ironischerweise stieg aber erst der zweite, schwammig gewordene Begriff zum international erfolgreichen und bis heute geläufigen Label auf, während die ursprüngliche Bedeutung nahezu völlig in Vergessenheit geriet.
Zum Begriff „Schule“ in den Künsten und Wissenschaften
Der Widerstand gegen den Begriff „Grazer Schule“ hängt wohl auch ein wenig damit zusammen, dass der Schulbegriff in den Feldern der Kunst und Architektur generell etwas altbacken wirkt – ist er doch ein Produkt der Kunsthistoriographie des 18. und 19. Jahrhunderts, welche die weitgehend akademisch organisierte Künstler- und Architektenausbildung ihrer Zeit auf vergangene Jahrhunderte rückprojizierte und mit ihrer Vorstellung von genialer Meisterschaft einerseits und akademisch organisierter Nachfolge andererseits kombinierte. So erfolgte ab dem späten 18. Jahrhundert, als die ersten Museen für ein breites Publikum geöffnet wurden, die Gruppierung der Gemälde nach regionalen Gesichtspunkten, sogenannten „Schulen“, die zugleich eine stilistisch-programmatische Gemeinsamkeit besaßen, wie etwa die holländische, flämische oder venezianische Schule [3] (ein Ordnungssystem, das, allerdings unter Weglassung des Schulbegriffs, in vielen großen Museen bis heute praktiziert wird). War hier „Schule“ identisch mit dem später geprägten Begriff der „Kunstlandschaft“, [4] so konnte parallel dazu die Zuordnung eines Städtenamens zu einer „Schule“ die Produktion der LehrerInnen und AbsolventInnen der jeweiligen Kunstakademie umfassen, wie es etwa bei der (seit 1837 so genannten) Düsseldorfer Malerschule der Fall ist, die nach handwerklichem Vorbild streng hierarchisch nach Meistern, Meisterschülern und einfachen Schülern (inklusive Hilfslehrern) aufgebaut und darin für viele Kunstakademien bis weit ins 20. und sogar 21. Jahrhundert hinein prägend war. [5] Gestaltete sich hier der Bezug zu einer Schule als Institution besonders eng, so konnte sich der Schulbegriff später davon lösen, wie es im frühen 20. Jahrhundert mit der École de Paris der Fall war, deren gemeinsamer avantgardistischer Nenner lediglich im Gegensatz zum Akademismus der École des beaux-arts bestand, oder der New York School, der gar keine Institution mehr (auch nicht als Widerpart) entsprach.
Unabhängig von Institutionen, aber stärker an prägende Lehrerpersönlichkeiten gebunden erscheint der Schulbegriff in der Musik, wie etwa bei der Mannheimer Schule oder der Ersten und Zweiten Wiener Schule. Gerade letztere lässt sich auf Arnold Schönberg und seine SchülerInnen eingrenzen, die sich der von ihrem Lehrer entwickelten atonalen Kompositionsweise beziehungsweise der später entwickelten Zwölftontechnik verpflichtet fühlten.
Dieses enge Lehrer-Schüler-Verhältnis, das sich in einer gemeinsamen Methodik äußert, bestimmt auch den Schulbegriff in den Wissenschaften, wobei hier die institutionelle (universitäre) Bindung noch verstärkend hinzukommt, wie bei der Frankfurter, Erlanger, Marburger und Grazer Schule der Philosophie, der Ersten und Zweiten medizinischen Wiener Schule, der Wiener Schule der Kunstgeschichte und der Nationalökonomie, um nur einige zu nennen.
Im Bereich der Architektur dient der Schulbegriff vor allem im 19. Jahrhundert als Synonym für den Stilbegriff, so etwa in der ersten Ausgabe des bis heute immer wieder neu überarbeiteten Standardwerks A History of Architecture on the Comparative Method der britischen Architekten Banister Fletcher (Senior) und Banister Flight Fletcher (Junior), worin von der Classic school oder der Gothic school des 19. Jahrhunderts die Rede ist. [6] Darüber hinaus findet man den Terminus in Kombination mit einer überragenden stilprägenden Lehrerfigur – wie zum Beispiel der Schinkelschule in Berlin oder der Wagnerschule in Wien – oder, wenn es sich um eine homogene Gruppe von Lehrenden handelt, in Bezug auf die entsprechende Hochschule Verwendung, wie dies etwa bei der Braunschweiger Schule der Fall ist, die von einer Gruppe von gleichgesinnten Professoren an der Technischen Hochschule Braunschweig ausging und den für ganz Norddeutschland maßgeblichen Nachkriegsfunktionalismus entscheidend prägte. [7]
Analog dazu spricht man von der Karlsruher und der Stuttgarter Schule, wobei letztere in eine erste Phase vor und eine zweite nach dem Zweiten Weltkrieg zerfällt. Stets bezieht sich die „Schule“ auf eine von einer Gruppe von Architekturprofessoren an einer bestimmten Hochschule gemeinsam vertretene Richtung, die den Studierenden (oft in mehreren Generationen) vermittelt wird und deshalb auch über die Grenzen der jeweiligen Hochschule hinaus schulbildend wirkt.
Gänzlich ohne Hochschule und Professoren kommt die wohl berühmteste Architekturschule aus: die Chicago School of Architecture. Dieses Label wurde im Wesentlichen 1933 von Henry-Russell Hitchcock und Philipp Johnson anlässlich einer Ausstellung im Museum of Modern Art in New York geprägt und stellte eine modernistische Interpretation der Chicagoer Wolkenkratzer des späten 19. Jahrhunderts dar, die zu Vorläufern des von den beiden Kuratoren propagierten International Style erklärt wurden. [8] Diese Aktualisierung von Geschichte erreichte 1964 mit dem seither ein Dutzend Mal wieder aufgelegten Standardwerk The Chicago School of Architecture von Carl W. Condit eine neue Stufe, indem auch die in der Bauhaustradition stehende Chicagoer Architektur nach 1945 zur New oder Second Chicago School erklärt wurde. [9] Diese hatte nun eindeutig mit Ludwig Mies van der Rohe einen Lehrer, zahlreiche SchülerInnen und eine Institution, die Architekturfakultät des Illinois Institute of Technology, vorzuweisen.
[1] Gemeint ist der Wiener Architekturkritiker Friedrich Achleitner, siehe unten. Interview mit Günther Domenig, in: Maria Welzig/Gerhard Steixner (Hg.), Die Architektur und ich, Wien-Köln 2003, 182.
[2] Peter Blundell Jones, Dialogues in Time. New Graz Architecture, Graz 1998, 18; vgl. den Beitrag von Blundell Jones in diesem Band, 36, Anm. 1 und 2.
[3] So wurde die 1781 eröffnete Kaiserliche Gemäldegalerie im Oberen Belvedere in Wien vom Basler Kupferstecher, Verleger und Kunsthistoriker Christian von Mechel (1737–1817) erstmals nach künstlerischen Schulen gehängt; ein Beispiel, das später vielerorts Nachahmer fand; vgl. Lucas Wüthrich, [Artikel] Mechel, Christian von, in: Otto zu Stolberg-Wernigerode (Hg.), Neue deutsche Biographie, Bd. 16, Berlin 1990, 579 f, hier 579.
[4] Harald Keller, Die Kunstlandschaften Italiens, 2 Bde., Frankfurt/M. 1994 [1. Ausg. München 1960].
[5] Vgl. Bettina Baumgärtel (Hg.), Die Düsseldorfer Malerschule und ihreinternationale Ausstrahlung 1819–1918, 2 Bde., Ausst.-Kat. Museum Kunstpalast Düsseldorf 2011.
[6] Banister Fletcher, A History of Architecture on the Comparative Method, London-New York 1896; vgl. Robert Bruegmann, Myth of the Chicago School, in: Charles Waldheim/Katerina Rüedi Ray (Hg.), Chicago Architecture. Histories, Revisions, Alternatives, Chicago-London 2005, 15–29, hier 365, Anm. 8.
[7] Zu den Lehrpersönlichkeiten der Braunschweiger Schule zählen Friedrich Wilhelm Kraemer (1946–1974 Professor für Gebäudelehre und Entwerfen), Dieter Oesterlen (1952–1976 Professor für Gebäudelehre und Entwerfen) und Walter Henn (1953–1982 Professor für Baukonstruktion und Industriebau); vgl. Olaf Gisbertz, Marke und Mythos – Braunschweiger Schule, in: Klaus Jan Philipp/Kerstin Renz (Hg.), Architekturschulen. Programm, Programmatik, Propaganda, Tübingen-Berlin 2012 (im Druck).
[8] Henry-Russell Hitchcock, Early Modern Architecture: Chicago, 1870–1910, Ausst.-Kat. The Museum of Modern Art, New York; vgl. Bruegmann 2005 (wie Anm. 6), 16 f.
[9] Carl W. Condit, The Chicago School of Architecture. A History of Commercial and Public Building in the Chicago Area, 1877–1925, Chicago-London 1964, 218 ff; vgl. Bruegman 2005 (wie Anm. 6), 18 f.
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Infobox
Der Essay wurde der Publikation "Was bleibt von der "Grazer Schule"? Architektur-Utopien seit den 1960ern revisited" (S. 55-73), die 2012 von Anselm Wagner und Antje Senarclens de Gracy im Jovis Verlag herausgegeben wurde, mit freundlicher Genehmigung des Verlags sowie von Anselm Wagner zur Wiederveröffentlichung auf www.gat.st entnommen. Am kommenden Sonntag erscheint in der Reihe "sonnTAG" der Essay "Konkrete Utopie *)-- Positionen aus Graz 1965-68" von Konrad Frey aus eben dieser Publikation.
Anselm Wagner leitet das Institut für Architekturtheorie, Kunst- und Kulturwissenschaften der TU Graz