14/07/2010
14/07/2010

Anselm Wagner (li) mit Dekan Urs Hirschberg. Foto: Gerhard Moderitz

Am 21.6. fand an der TU Graz unter dem Titel „Freundliche Viren“ die Antrittsvorlesung des neuen Professors für Architekturtheorie, Kunst- und Kulturwissenschaften statt. Mit Anselm Wagner, einem genuinen Kunsthistoriker, der unter anderem Leiter der „Galerie 5020“ in Salzburg und Redakteur des Kunstmagazins „Spike“ war und an mehreren Universitäten im In- und Ausland lehrte, darunter auch schon an der TU Graz, bekleidet nun der Wunschkandidat der Studierenden diesen Lehrstuhl.

Nach einer kurzen Vorstellung durch den heiseren Dekan Urs Hirschberg begann Wagner seinen Vortrag mit der Annäherung an eine Definition von Architekturtheorie: Im Gegensatz zur historisch veranlagten Architekturgeschichte bezieht sich Architekturtheorie immer auf die Zukunft, auch dann, wenn sie sich scheinbar mit der Vergangenheit beschäftigt. Von der Architekturkritik wiederum unterscheidet sie sich vor allem dadurch, dass sie versucht, ein subjektives Urteil nachvollziehbar zu begründen. Ihr Antrieb besteht in der elementaren Frage „Wie sollen wir bauen?“
Das nun von Wagner geleitete Institut ist das einzige, das versucht, Architekturtheorie, Kunstwissenschaft und Kulturwissenschaft unter einen Hut zu bringen. Diese Dreiecksbeziehung beschreibt er als ein Verhältnis, geprägt von wechselseitiger Antipathie, kritischer Distanz und Sprachverwirrungen. Die permanente Konfliktsituation biete aber Berührungs- und Reibungspunkte, die befruchtend wirken können.

Das Zusammenwirken der drei Disziplinen und damit auch seine eigene Herangehensweise demonstrierte Wagner im dritten Teil des Abends im ihm eigenen, exakt formulierenden und oft ironischen Stil. Die wichtigsten Stationen des Vortrags sollen hier kurz wiedergegeben werden. Der griechisch-französische Philosoph Cornelius Castoriadis schrieb 1975 in seinem Werk „Gesellschaft als imaginäre Institution“, dass sich jede Gesellschaft selbst erschafft und dabei ein zentrales Imaginäres erzeugt, das ihr Selbstverständnis entscheidend prägt. Dieses Imaginäre braucht sichtbare Symbole, um seine konstituierende Wirkung zu behalten. Eines dieser Symbole ist die Architektur. Sie ist also keine bloße Widerspiegelung sozialer Verhältnisse, sondern orientiert sich an den zentralen Bedeutungen und Wunschbildern einer Gesellschaft. Die Kulturwissenschaft beschäftigt sich mit dem Imaginären und seinen vielfältigen Symbolisierungen, weshalb Architekturtheorie immer auch aus einer kulturwissenschaftlichen Perspektive betrieben werden muss.
Zur Analyse des Imaginären und seiner Symbole anhand der Metapher von Beschmutzung, Kontaminierung und Ansteckung führte Wagner die Zuhörer auf einen architektonischen Streifzug durch die letzten Jahrzehnte – vom Palais de Tokyo in Paris über tätowierte und angeschimmelte Gebäude, über narzisstische Showarchitektur und den von Dietmar Steiner beschriebenen „Latte Macchiato Städtebau“ bis ins Schlafzimmer von Adolf Loos’ Frau.
Die Metapher der „Virologischen Architektur“ wurde vom niederländischen Architekten Wiel Arets geprägt. Er geht in seinem Text von 1992 „An Alabaster Skin“ vom Reinheits- und Hygienewahn der Moderne aus, denkt aber über diesen hinaus: Architektur müsse ihre Unschuld verlieren − also beschmutzt werden − um sie selbst und damit ein Teil der Welt zu werden. Ein Gebäude verändert eine Stadt wie ein injiziertes Virus, das sich ausbreitet.
Das Unsaubere stellt für die Nachmoderne das dar, was die Reinheit für die Moderne war und wird genauso idealisiert. Sowohl die Postmoderne als auch der Dekonstruktivismus zeichnen sich durch die Verunreinigung der modernistischen Perfektion aus, genauso wie der Dirty Realism, der 1990 von Liane Lefaivre beschrieben wurde. Bei aller Gegensätzlichkeit sind sich die Strömungen in ihrer Differenz zur Moderne einig, womit sie auch die Unmöglichkeit eingestehen, mit Architektur eine dauerhafte Ordnung zu etablieren. Die Unreinheit ist ein realer Zustand, fernab von jeder idealistischen Utopie. Sie ist von Gegensätzen, Reibung und Widersprüchen gekennzeichnet, sie ist lebendig.
Wiel Arets will nicht, wie Le Corbusier, die vermeintlich kranke Stadt des 19. Jahrhunderts heilen, sondern ihr ein Virus einpflanzen, das die ganze Stadt befällt. Architektur ist für ihn etwas Künstliches in einer natürlichen Umgebung. Sie kann gesellschaftliche Veränderungen zwar nicht selbst herstellen, aber sie kann sie einleiten. Ein Virus braucht zum Überleben immer einen Wirt, dessen Code es umprogrammiert; es ist also ein subjektloser, sehr machtvoller Akteur in einer sich selbst generierenden Stadt. Besonders bei postmodernen Architekten birgt die Virus-Metapher also auch eine versteckte Machtphantasie. Ob die Virologische Architektur nur eine modische Formel ist oder ob sie auf ein, über die Architektur hinaus wirkendes Imaginäres hindeutet, ist für Wagner eine Frage, die erst die Zukunft beantworten kann.

Das freundliche Virus Anselm Wagner − er bezeichnet sich selbst als einen in die TU injizierten Kunstgeschichtler − kann zwar nicht auf einen Schlag Architekturtheorie, Kunst- und Kulturwissenschaften vereinen, aber unter den Studierenden eine Entwicklung einleiten, die zu einer Wiederhinwendung zur Architekturtheorie und deren Integration in die Entwürfe führt. Architekturtheorie muss für ihn eine Dirty Theory sein, auf die Praxis schauen und sich auch die Finger schmutzig machen dürfen.

Verfasser/in:
Martin Grabner, Bericht
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