05/12/2011

Is there (anti-)neoliberal Architecture? 

Diese Frage wurde am 11.  und 12. November 2011 vom Institut für Architekturtheorie, Kunst und Kulturwissenschaften der TU Graz gestellt.

Teil 1

05/12/2011

"Is there (anti-)neoliberal Architecture?" - Diese Frage wurde am 11. und 12. November vom Institut für Architekturtheorie, Kunst und Kulturwissenschaften gestellt.

Anselm Wagner, Architektur- und Kunsthistoriker, -theoretiker und -publizist ist Professor am IAKK der Architekturfakultät, TU Graz

Ana Jeinic vom IAKK im Gespräch mit Rixt Hoekstra, Tahl Kaminer und Daniel Gethmann.

Christiane Irxenmayer studiert Architektur an der Akademie der bildenden Künste in Wien.

Andreas Rumpfhuber ist Architekt und Architekturtheoretiker in Wien und hatte Lehraufträge an mehreren Universitäten.

Anselm Wagner im Gespräch mit Arie Graafland, Maria S. Guidici und Andreas Rumpfhuber.

Daniel Gethmann ist Kunst- und Kulturwissenschaftler sowie Publizist und lehrt am IAKK.

Ole W. Fischer, Architekt und Architekturhistoriker und Publizist lehrt an der University of Utah.

Olaf Pfeifer ist Architekt und unterrichtet Architekturtheorie und Design an der Bauhaus-Universität in Weimar.

Oliver Ziegenhardt ist Architekturtheoretiker und unterrichtet an der Bergischen Universität Wuppertal. (Alle Fotos: IAKK)

Teil 1 der Nachlese zum Symposium "Is there (anti-)neoliberal Architecture?" des Instituts für Architekturtheorie, Kunst- und Kulturwissenschaften an der TU Graz.

"Architekten bauen keine Städte mehr, sondern designen Oberflächen. Die Städte der Gegenwart werden von Investoren gebaut." So drastisch skizzierte Anselm Wagner, Professor am Institut für Architekturtheorie, Kunst- und Kulturwissenschaften, die gegenwärtige Rolle der Architektur in der neoliberalen Gesellschaft als Ausgangspunkt einer, vom IAKK veranstalteten und von Wagner gemeinsam mit Ana Jeinić konzipierten Tagung an der TU Graz.

Die titelgebende Frage scheint schwer zu beantworten zu sein – konzentrieren sich doch die meisten Architekturtheoretiker seit Jahrzehnten auf den Städtebau, sobald sie auch nur in die Nähe des Neoliberalismus kommen. Dort sind dessen Spuren relativ leicht nachzuvollziehen. Umso mehr man sich jedoch mit einzelnen Gebäuden beschäftigt, desto schwieriger wird es. Die Referenten näherten sich dem Neoliberalismus in der Architektur – oder der Architektur im Neoliberalismus – aus teils sehr unterschiedlichen Blickwinkeln und entwarfen Strategien, wie Architektur und Gesellschaft mit dessen dominanter Rolle umgehen und umgehen könnten.

Annäherung an den neoliberalen Raum
Neoliberalismus ist der Glaube an die Selbstregulierungskraft des freien Marktes, der sich als ein globales und allumfassendes Prinzip aus dem ökonomischen Konzept des Kapitalismus entwickelte. Übertragen auf die Architektur impliziert das für die Vortragenden zunächst einen frei fließenden Raum ohne Widerstände und Grenzen. Die Städte des Neoliberalismus sind rational und effizient, ihr Raum ist homogen, nahtlos und potenziell unendlich. Sie sind weniger spezifische Orte als ein betriebswirtschaftlicher Prozess.
Im grenzenlosen Raum ist scheinbar alles öffentlich und alles möglich. Diese Öffentlichkeit ist aber trügerisch, denn echte öffentliche Räume im Sinn eines politischen Forums werden vermieden. Individualität und das Treffen eigener Entscheidungen sind nur scheinbar (oder innerhalb enger Parameter) möglich. Die Homogenität entsteht aus der Vermeidung jeder Konfrontation, was den Ausschluss des Anderen – also doch wieder das Ziehen bestimmter Grenzen – voraussetzt.

Mit dem neoliberalen Stadtraum beschäftigten sich mehrere Referenten: So ging Christiane Irxenmayer auf die suggerierte und reale Zugänglichkeit von städtischen Orten ein und Andreas Rumpfhuber analysierte die kybernetische Organisation von Raum durch Strukturierung anstelle einer spezifischen Determinierung.
Ein Projekt, das den frei fließenden, homogenen und undeterminierten Raum sehr früh und klar thematisiert, ist die „No-Stop-City“ von Archizoom (1969), die unter anderem von Maria S. Guidici zitiert wurde. Ist dieser Raum der ideale – oder wie Daniel Gethmann meinte, schon kanonische – Raum des Neoliberalismus, in dem sich dieser unangreifbar entfalten kann? Oder bietet er auch Platz für Aneignung, Platz für Widerspruch und Kritik?

Gibt es die neoliberale Form?
Die Hinwendung der Architektur der 90er Jahre zu fließenden Räumen und glatten Oberflächen hat nur auf den ersten Blick mit den neuen technischen Möglichkeiten zu tun. Vielmehr ist sie ein Ausdruck des neoliberalen Paradigmas des freien Flusses von Kapital, Gütern, Menschen und Informationen, wie Ole W. Fischer von der University of Utah unterstrich. Ist also ein neoliberales Gebäude an seinen fließenden Formen zu erkennen?
Sicher nicht immer. Ein Blick in die Architekturgeschichte beweist: Es gibt keine eindeutigen formalen oder typologischen Kriterien, die eine Architektur einer Ideologie, sei es Faschismus, Sozialismus oder eben Neoliberalismus, zuordenbar machen. Erst die Rezeption im zeitlichen und sozialen Kontext führt zu einer entsprechenden Assoziation. Olaf Pfeifer von der Bauhaus-Universität in Weimar näherte sich dieser Frage bei gleichzeitiger Beschränkung auf ein phänomenologisches Merkmal: die Verwendung der Farbe Weiß. Im Klassizismus wurde Weiß als Referenz an das Ideal der (wie wir inzwischen wissen gar nicht so weißen) Antike eingesetzt, in der klassischen Moderne stand es vor allem für Reinheit und Dematerialisierung. Heute ist die Farbe – ganz postmodern – mehrfach und differenzierter codiert: Weiß steht weiterhin für Reinheit und Perfektion, aber auch sehr stark für die Nicht-Information. Es separiert Objekte von ihrer Umgebung, dekontextualisiert sie, macht sie aber zugleich sichtbarer und autonom. Die Abstraktion und absolute Reduktion kann auch auf unsichtbare, verinnerlichte Ordnungssysteme verweisen, wie Pfeifer sie schon bei puritanischen Gesellschaften ortet.

Oliver Ziegenhardt von der Bergischen Universität Wuppertal sieht in neoliberaler Architektur ebenfalls keinen formalen Stil, sondern vor allem eine affirmative, einfach zu konsumierende und mehrheitsfähige Konsensarchitektur. Die immer bedeutender werdende Rolle des City-Marketings im internationalen Städtewettbewerb ist eine unmittelbare Auswirkung des Neoliberalismus auf die Architektur. (Ironischerweise sind übrigens gerade bei der Produktion von Signature-Buildings viele Akteure, die als Speerspitze der kritischen Architektur galten, sehr erfolgreich.) Zwei weitere Themenkomplexe, an die die Architektur im letzten Jahrzehnt weitreichende Gestaltungskompetenzen abgeben musste, benennt Ole Fischer mit den rigiden Sicherheits- und Kontrolltechnologien seit dem Terroranschlag auf das World Trade Center 2001 und der omnipräsenten Nachhaltigkeit und Energieeffizienz, die die Zahlenwerte am Energieausweis über architektonische Qualitäten stellt.

Ein Spiegel der Gesellschaft
Ana Llorente von der Universidad Autónoma de Madrid sprach über die wechselseitige Beeinflussung von Architektur und Mode, die sich in der Kunst und seit einigen Jahren verstärkt in den – genuin neoliberalen – Creative Industries zeigt. Im Kontext des Neoliberalismus beinhaltet "textiles Denken" nicht mehr nur die wörtliche "Bekleidung" von Architektur im Sinne Gottfried Sempers, sondern vor allem Flexibilität und Veränderlichkeit der architektonischen Form und von städtischen Strukturen. Die Mode als gesellschaftliches Konstrukt ist hingegen sowohl deren Spiegel als auch eine Selbstmaskierung und -inszenierung des Individuums in der Gesellschaft, ähnlich der Fassade in der Architektur. Die Welt der Mode reflektiert damit sehr anschaulich die Dualität von Individualität und Anpassung in einer neoliberalen Realität.

Die Möglichkeiten der Architektur, in diesem Spannungsfeld zwischen Kritik und Affirmation zu agieren, sind Thema des zweiten Teils der Nachlese zur Tagung, der in einer Woche auf www.gat.st erscheint.

Netzwerktreffen
16. + 17.11.2023
 
GAT+