06/05/2022

Talking Heads 2
27.04.2022

In der zweiten Diskussionsrunde der Reihe Talking Heads laden Heidi Pretterhofer und Michael Rieper ihre Gäste in den Club Hybrid ein, um über die akut angeregte, beziehungsweise omnipräsente Frage nach Sonderwohnformen zu sprechen.

06/05/2022

Talking Heads 2: Gäste am Podium

©: Club Hybrid

Talking Heads 2: Gäste am Podium

©: Club Hybrid

Talking Heads 2 im Club Hybrid

©: Club Hybrid

Krise als Normalzustand
„[...]Krisen sind nicht mehr die Ausnahme von der Normalität, sondern die Normalität der Ausnahme“ schreibt Bernd Ulrich in einem Artikel in der Österreich-Ausgabe der Zeit vom 24. März 2022. Gut einen Monat später, bei der zweiten Talking Heads Veranstaltung im Club Hybrid in der Herrgottwiesgasse, werfen die von Heidi Pretterhofer und Michael Rieper eingeladenen  Sprecher*innen am Podium unter anderem die Frage auf, ob Sonderwohnformen nicht eigentlich viel mehr die Norm als ein Sonderfall für Krisenzeiten wären. Neben Bürgermeisterin Elke Kahr sitzen noch Birgit Leinich (Stadtentwicklungsspezialistin, Österreichisches Siedlungswerk), Amrita Böker (Koordinatorin Vinzi Werke Österreich), und Fabian Wallmüller (Architekt) am Podium. Den Impulsvortrag hält kein einschlägig mit Architektur oder Stadtentwicklung beschäftigter Gast, sondern der Historiker und Philosoph Benjamin Grilj vom Institut für jüdische Geschichte Österreichs. Er referiert vom differenziert wahrgenommenen Wachsen und Schrumpfen der jüdischen Gemeinde Wiens von der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bis in die Zwischenkriegszeit.

Stigmatisierung der Migration
Demnach ist die Bevölkerung Wiens von 1869 bis 1916 von ca. 1 Million Einwohner*innen auf das Doppelte, also ca. 2 Millionen Einwohner*innen angewachsen. Der Anteil der jüdischen Bevölkerung wächst in einem etwas kürzerem Zeitraum sogar um das Vierfache, auf ca. 175.000 Einwohner*innen an. Eine signifikante Fluchtbewegung der jüdischen Einwohner*innen während des ersten Weltkriegs aus Wien, lässt sich aufgrund widersprüchlicher Statistiken nicht glaubwürdig belegen. In Bezug auf das starke Bevölkerungswachstum soll man, auf Wunsch Kaiser Franz Josefs, keine Armut auf den Straßen Wiens sehen. Das führt neben Ausweisungen von Armen aus der Stadt auch dazu, dass ein Bild der jüdischen Gemeinden in der Öffentlichkeit gezeigt wird, das stark von den reellen Zuständen der unter Armut und Hunger leidenden Bevölkerung abweicht. Diese medialen Stereotype tragen zur unumkehrbaren Denunziation in der Gesellschaft bei, und kommen während der späteren Zuwanderung von verfolgten und vertriebenen Jüd*innen aus dem Osten, um ihre Migration zu etwas Bedrohlichem zu machen.

Arrival Cities
Fabian Wallmüller geht mit Studierenden der TU Wien im Rahmen einer Publikation der Frage nach, wie die Integration von Migrant*innen heute, mithilfe von Beiträgen der Architektur und Stadtentwicklung, in der Arrival City Wien gelingen kann. Ob Graz eine Arrival City sei, könne er, in der Eröffnungsrunde der Diskussion darauf angesprochen, nicht konkret beantworten, da seine Expertise diesbezüglich vor allem Wien betreffe. Aber die Eigenschaften einer Ankunfts-Stadt sind neben einem starken Migrationshintergrund in der Bevölkerung auch ein dementsprechendes Netzwerk, an das neu Ankommende anknüpfen können, erläutert Wallmüller. In Graz, fügt er hinzu, sei das am ehesten in bestimmten Bezirken, wie Gries und Lend erkennbar. Aber, so bestätigt Bürgermeisterin Elke Kahr, auch in Graz sei der Anteil jener Bewohner*innen in der Bevölkerung mit einem Migrationshintergrund beider Elternteile annähernd gleich hoch wie in Wien: fast 50 Prozent. Wallmüller plädiert allerdings dafür, die Migrationsbewegungen unter der Prämisse eines Normalfalls statt eines Sonderfalls zu betrachten. Auch er sei von Graz nach Wien gegangen. Eine Migrationsbewegung mit ganz anderem Hintergrund, aber dennoch ein Standortwechsel, verbunden mit entsprechenden Bedürfnissen, die er an den neuen Lebensmittelpunkt stellt. Diese Bedürfnisse könnten aber auch jene nach einem kurzfristigen Wohnverhältnis sein, die Nachfrage hierzu würde aus seiner Sicht steigen. Seine Frage in die Runde ist daher, ob es in Zukunft nicht sinnvoll wäre, Wohneinheiten für solche Kurzmietverhältnisse bei Wohnbauprojekten als fixen Bestandteil zu integrieren?

Housing First
Für das Business-Klientel gibt es solche Kurzmietverträge bereits. Zum Beispiel beim Österreichischen Siedlungswerk , mit einer Mindestvertragsdauer von 2 Monaten. Aber wie sieht es mit der Versorgung aus, wenn es nicht um Business-Aufenthalte, sondern darum geht, Menschen zusätzlich zur Wohnungssuche auch bei der Wiedererlangung sozialer Sicherheit zu unterstützen. Das Konzept Housing First, mit dem das Sozialprojekt neunerhaus und die Tochterfirma neunerimmo arbeiten, dient dazu, Bedürftigen zuerst eine Unterkunft als sichere Basis zu geben und ihnen begleitend professionelle Hilfe bereitzustellen, um ihnen in grundlegenden sozialen Bereichen (Gesundheitsversorgung, Kinderbetreuung, Arbeit, usw.) wieder auf die Beine zu helfen. Birgit Leinich hat im Rahmen ihrer Arbeit für diese Sozialprojekte die Brücke zur Immobilienwirtschaft hergestellt. Sie erklärt, dass es oft zu kommunikativen Hürden zwischen der sozialen Agenda der Wohnraumbereitstellung mit erweiterter, professioneller Hilfe, und dem übrigen Wohnungsmarkt kommt. Die unverzichtbare Grundlage einer funktionierenden Zusammenarbeit zwischen Vertreter*innen der Immobilienwirtschaft und Sozialarbeiter*innen sei daher, laut Leinich, die offene Kommunikation und das Finden einer gemeinsamen Sprache.

Die Wohnsituation in Graz
Dass dieses Zusammenfinden von kommunalen Wohnbauaufgaben für sozial schwächer gestellte Stadtbewohner*innen und dem geförderten Wohnungsmarkt an mehr als der Sprache scheitert, beschreibt Elke Kahr ausführlich. Die Stadt Graz selbst habe erst 2015 wieder begonnen als Bauherr*in sozialen Wohnbau umzusetzen. Da der Deckel des Förderumfangs ihr zufolge aber steiermarkweit (!) bei etwa 1.700 Wohneinheiten im Jahr liege, bekomme die Stadt hier keine Chance auf Finanzierung. Diesen Markt würden zur Gänze Bauträger*innen und Genossenschaften bedienen. Darüber hinaus steigen die Standards der Wohnbauten in diesem Sektor bekannterweise parallel mit den steigenden Obergrenzen der Jahreseinkommen für Förderungsberechtigte. Und die Prüfstandards für künftige Mieter*innen geförderter Wohnungen, so Kahr, seien enorm streng. Von diesem Markt sind Menschen, die von akuter Wohnungsnot und Wohnungslosigkeit betroffen sind, schlicht und ergreifend gänzlich ausgeschlossen. Die Zahl wohnungsloser Menschen beläuft sich laut einer Erhebung des Sozialamtes aus dem Jahr 2016 auf über 1.800, zuzüglich von 230 mitziehenden Minderjährigen. Deshalb sei das Kommunaleigentum von Wohnungen der Stadt so wichtig, betont Elke Kahr. Ansonsten fehle es nämlich an Steuerungsmöglichkeiten, um Wohnraum bereitzustellen und die verschiedensten Teuerungen so gut es geht abfedern zu können. Die Kernfrage sei ganz einfach, ob man ein gesichertes Zuhause habe oder nicht.

Nicht Wachstum sondern Konzentration auf die Kernaufgaben
Für all jene, denen akut keine Wohnmöglichkeit und eine entsprechende soziale Grundversorgung zur Verfügung stehen, arbeiten die Vinzi-Werke seit 30 Jahren, indem sie österreichweit ein umfangreiches Auffangnetz, bestehend aus insgesamt 40 Einrichtungen und Projekten betreiben. In Graz stehen pro Nacht 230 Betten zur Verfügung. Amrita Böker verneint als Michael Rieper sie nach Wachstumsszenarien der Vinzi-Werke fragt. Es sei wichtig, sich mit der jetzigen Größe auf die Aufgaben zu konzentrieren, die es zu bewältigen gelte. Und zwar mit einem entsprechenden Qualitätsanspruch. Darüber hinaus plädiert Böker dafür, den öffentlichen Raum als einen, für alle zugänglichen Raum zu verstehen und das Thema Leben auf der Strasse  nicht auszublenden. Auf Einsitzerparkbänken könne in der Nacht niemand schlafen, ergänzt sie. Und um den Menschen in solchen Lebenslagen mehrere Optionen bieten zu können, sieht sie den vorhandenen Bestand der Vinzi Einrichtungen und dessen Bereitstellung und Betrieb als enorm wichtig an, ebenso wie Housing First -Wohnunterkünfte und ein Kontingent an leistbarem Wohnen in der Stadt.  

Fazit 
Diese Philosophie können wir uns getrost zu Herzen nehmen. Man muss sich seiner Kernaufgaben bewusst werden. In der Stadtentwicklung und der Architektur geht es eben auch (!) darum, leistbaren Wohnraum in einer sozial gut vernetzten Gesellschaft zur Verfügung zu stellen, auf dem Land ebenso wie in der Stadt. Ein Dach über dem Kopf ist ein Grundrecht, genauso wie soziale Sicherheit. Luxusimmobilien bleiben immer leistbar, zumindest für eine kleiner werdende Gruppe an Menschen. Aber wenn Grundbedürfnisse nicht mehr bezahlbar sind, haben wir als Gesellschaft alles falsch gemacht. Wenn das die Norm ist, dann haben wir, aus Sicht der Mittelschicht gesprochen, vergessen, die Welt um uns herum aus einer anderen Perspektive als der eigenen zu betrachten. 

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