06/11/2017

Strukturwandel in der Landwirtschaft – Leerstand im Idyll

Elisabeth Anderl zur Leerstandskonferenz 2017

In Innervillgraten, Osttirol, fand vom 11.–13.10. die sechste, vom Architekturbüro nonconform konzipierte Leerstandskonferenz statt. Unter dem Titel Leerstand ab Hof! diskutierten 30 Experten und ca. 200 Gäste auf Initiative des Landes Tirol, des Regions- managements, des regionalen Planungsverbandes 35 und der Gemeinde Innervillgraten die Folgen des Strukturwandels in der Landwirtschaft und mögliche Lösungsansätze.

06/11/2017

Die landwirtschaftlich geprägte Kulturlandschaft des Villgratnertales

©: Elisabeth Anderl

Das Giatlahaus ist Teil eines Gehöftes auf 1625 m Seehöhe. Die Betreiberfamilie, die auch am Hof wohnt, hat mit dem Innsbrucker Architekturbüro Madritsch Pfurtschaller 4 Ferienwohnungen errichtet ohne das Ensemble zu zerstören, in sorgfältiger Abwägung von Behalten und Erneuern.

©: Lukas Schaller

Das Giatlahaus, innen

©: Lukas Schaller

Die Osttiroler Heustadel gehören zur identitätsprägenden Kulturlandschaft des Hochpustertals. Heute haben sie keine Funktion mehr. Um ihren Erhalt zu sichern, müssen sie einer neuen, landwirtschaftlichen Nutzung zugeführt werden.

©: Michael Mayer

Michael Hohenwarter, Regionalmanagement; Elisabeth Leitner, FH Kärnten; Elisabeth Gruber, Universität Wien; Rolf-Peter Klar, niederbayrische Landesregierung; Kerstin Schultz, Hochschule Darmstadt

©: nonconform/mulina

Katharina Forster, Architektin und Jungbäuerin; Anne Isopp, Architekturjournalistin; Simon Vetter, Biobauer; Josef Lusser, Bürgermeister Innervillgraten

©: nonconform/mulina

Peter Haimerl, Architekt und Stadtplaner; Peter Zellmann, Zukunftsforscher; Franz Höllinger, Universität Graz

©: nonconform/mulina

Blick ins Publikum

©: nonconform/mulina

Jürgen Wallnöfer, Architekt; Gerlind Weber, Raumplanerin; Walter Hauser, Bundesdenkmalamt; Alexander Aghetle, Architekt

©: nonconform/mulina

Organisationsteam: Roland Gruber, nonconform; Nathalie Thaler, nonconform; Josef Lusser, Bürgermeister Innervillgraten; Michael Hohenwarther, Matthias Scherer, Bürgermeister Obertillach und Obmann Planungsverband 35; Thomas Kranebitter Raum- und Regionalplaner

©: nonconform/mulina

Täglich werden sechs Bauernhöfe in Österreich zugesperrt. Die oft hunderte Jahre alten, alteingesessenen Betriebe müssen sich unter dem herrschenden Modernisierungsdruck an eine globalisierte Marktwirtschaft und ihre Regeln anpassen und wie die gesamten ländlichen Regionen zwischen der Abwanderung der erwerbstätigen Jugend und „städtischer Landerwartung“ (Kerstin Schultz) der Zuzügler eine neue Identität finden.

Die landwirtschaftlich geprägte Kulturlandschaft des Villgratnertales präsentiert sich an den Tagen der Leerstandskonferenz im strahlenden Herbstlicht als heile Welt. Kühe und Schafe weiden auf den steilen Hängen des V-Tals, die Wiesen sind gemäht und die Ernte ist eingebracht. Das Dorf befindet sich auf ca.1400 Metern Seehöhe, viele der Gehöfte liegen hoch über dem Talboden und der höchstgelegene Weiler liegt gar auf 1625 Metern. Knapp unter 1000 Einwohner leben hier, bewirtschaften noch 90 Bergbauernhöfe, arbeiten im Ort oder pendeln in das 40 km entfernte Lienz aus – sofern im Winter die Straße aus dem Tal passierbar ist.

Aber auch die Villgratner Idylle ist prekär, der landwirtschaftliche Strukturwandel macht auch vor den hiesigen Bergbauern und Kulturpflegern keinen Halt. In Osttirol sperren jährlich 20 bis 25 Betriebe wegen Überalterung, fehlender Hofnachfolger oder verpatzter Hofübergabe zu – verglichen mit Gesamtösterreich ist das noch eine moderate Quote.

Wie dramatisch die Entwicklung in der Landwirtschaft ist, zeigt der Eröffnungsfilm Bauer unser von Robert Schabus. Er vermittelt die Kehrseite der ländlichen Idylle und die zum Überleben wichtige Rollenfindung der Landwirte zwischen monofunktionalen, global vernetzten Großbetrieben und kleinstrukturierten, vielfältig aufgestellten, regionalen Selbstvermarktern.

Die Veränderungen in der Landwirtschaft, ob Schließung, Umnutzung oder Erweiterung, sind nicht nur für den einzelnen Landwirt schwierig, sie sind vor allem aus raumplanerischer Sicht ein heikles Thema. Landwirtschaft ist ortsgebunden, die oft Jahrhunderte alten Gehöfte stehen in dörflichen Mischgebieten oder abseits liegenden Streusiedlungen, in fruchtbaren Ebenen oder auf kargen Hanglagen. Mehrere Generationen der Familie arbeiteten am Hof, sie versorgten sich selbst und die Region. Das Landleben war ein hartes Leben.

Die Verstädterung der Gesellschaft hat auch das bäuerliche Leben erreicht, wie der Grazer Soziologe Franz Höllinger in einer Studie aufzeigt. Der wertkonservativ, patriarchal geführte und konfliktträchtige Mehrgenerationen- haushalt hat sich in Richtung mehr Privatheit und kleinerer Haushaltsformen verändert. Die klassische Mann/Frau-Rollenteilung wird aufgeweicht und gemeinschaftlich gewählte Aufgabenteilungen zwischen Mann und Frau bestimmen heute den bäuerlichen Alltag.

Heute sind die jungen Landwirte meist sehr gut ausgebildet und suchen, um ihr Einkommen abzusichern, nach neuen Wegen zwischen der monofunktionalen Landwirtschaft im Spannungsfeld von Finanzierungsinstituten und Großabnehmern und der kleinstrukturierten gemischten Landwirtschaft. In der abendlichen Diskussionsrunde meint der Kalser Landwirt Philipp Jans, dass Professionalisierung der Landwirtschaft nicht unbedingt größer und noch größer zu werden bedeutet, sondern auch in der Effizienz der Arbeit liegt. Im Laufe der Konferenz werden viele gelungene Beispiele vorgestellt, Einzelmaßnahmen wie touristische Nachnutzungen leerstehender Gebäude aber auch Spezialisierung und verstärkte Direktvermarkung.

Zu den vorbildhaften Höfen gehört der Biohof Vetter in Lustenau, der auch im Film Bauer unser präsentiert wird. Der Hof wurde bereits vor 20 Jahren von Vetters Vater am Siedlungsrand neu errichtet. Heute betreibt Simon Vetter eine vielseitige Biolandwirtschaft, die er selbst vermarktet. Neben der Belieferung der Gastronomie, einem eignen Hofladen und einem Stand am Wochenmarkt in Lustenau hat er auch in die Entwicklung eines eigenen Programms zur Steuerung seines wöchentlichen Lieferservices an private Haushalte investiert. Mit dem Verein Bodenfreiheit stellt Vetter noch ein zweites Projekt vor, das im Rheintal durch Rückkauf ungenutzter Grundstücke im Bauland, zusammenhängende landwirtschaftliche Flächen zu generieren und zu erhalten versucht.

Die Widmung ist auch das wesentliche Werkzeug der Raumplanung zur Steuerung der Dorfentwicklung, zum Erhalt der bäuerlichen Betriebe und der Kulturlandschaft. Sie ist entscheidend für die Möglichkeiten der Umnutzung funktionsloser und leerstehender Gebäude, abhängig von der Zugehörigkeit zu einem geschlossenem Siedlungsgebiet oder als Einzellage, in einer Streusiedlung. Während im Dorfgebiet wenigstens das Mindestmaß technischer Infrastruktur vorhanden ist und Widmungsänderungen meist möglich sind, sind für die oft einige hundert Jahre alten Gehöfte in den Streusiedlungen in der Raumordnung mit den sogenannten Punkt- oder Sternchenwidmungen Ausnahmen vorgesehen, mit denen starke Nutzungseinschränkungen einhergehen.

Leerstand und Funktionsverlust betreffen am Land nicht nur die Landwirtschaften in Streulagen, auch die Ortskerne leiden unter den Folgen der Abwanderung. Wenn Ankerorte durch den Wegfall von Schulen, Banken und Geschäften ihre zentrale Bedeutung verlieren, funktionieren regionale Netzwerke nicht mehr und müssen, von außen moderiert, wieder neu aufgebaut werden, wie Rolf-Peter Klar, Leiter der niederbayrischen Abteilung für Städtebau ausführt.

Auf diesen Blick von außen setzt auch der niederbayrische Architekt Peter Haimerl, der mit Projekten wie HEIMATLOFT, Haus.Paten oder Semmler-Haus-Gespräch den Dörfern in Niederbayern neue Perspektiven öffnen will. Mit seiner teils radikalen, teils bewahrend-erzählenden Architektursprache versucht er sowohl Alteingesessen als auch Zuwanderern die bau- und landschaftskulturellen Werte der dörflichen Baustrukturen in ihrem Gesamtzusammenhang zu vermitteln.

Denn „Leerstand und Abwanderung im Dorf gehen spätestens dann alle an, wenn die leeren Gebäude im Dorf durch das fehlende Licht am Abend auffallen und gewohnte Infrastruktureinrichtungen wie Schule, Gasthaus und Kaufmann zusperren“ (Bürgermeister Scherer). Die Frage der Um- und Nachnutzung, der Adaptierbarkeit der Gebäude oder des Abrisses betrifft daher nicht nur die Besitzer, sie bestimmt die Entwicklung des dörflichen Lebens und der Gemeinschaft und sie erfordert von allen Beteiligten – der Gesetzgebung, der Verwaltung, den Eigentümern und letztlich auch den Konsumenten / Touristen eine gemeinsame Anstrengung und viel Feingefühl. Letztlich birgt aber jeder Leerstand auch die Chance auf Neues.

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