30/07/2004
30/07/2004

(1) Alle sind weg, nur ich halte die Stellung

(2) Im Dschungel ein Kunsthaus

(3) Empire Herz Jesu Building

(4) Das Lichtschwert und die Zwillingsskulptur

(5) Man befolgt die Anweisungen auf den Werbeplakaten

(6) Der Hauptplatz und seine Besitzer

(7) Radwege in der Leechgasse

(9) Hamed, Stadtabenteurer

(8) Zur wahren Liebe

(10) Griesplatz 24, vorher

(11) Griesplatz 24, nachher
Fotos: Wenzel Mracek

Als hätte man mich zurückgelassen in Graz, während Freunde und Bekannte sich auf Urlaubsreisen nach Korsika, Sardinien, Samos, Nicaragua oder auf diverse Almen etc. begeben haben. Als hätte ich hier die Stellung zu halten mit einem selbst erteilten Auftrag, bin ich an Woody Allens Stadtneurotiker erinnert, unfähig die Stadt zu verlassen und verpflichtet, hier alles im Lot zu halten oder jedenfalls ja nichts zu versäumen, was sich hier während meiner – auszuschließenden – Abwesenheit zutragen könnte (Bild 1).

Sicher jedoch ist, dass ich glücklicherweise keinerlei Verpflichtung empfinde einer Kontinuität zu entsprechen, indem ich wie Herr Allen allmontäglich dem Klarinettenspiel zu frönen hätte. Dem Stadtneurotiker entgegne ich mit der Erfindung des Stadtabenteurers, dessen wirkliche Verpflichtung notgedrungen darin besteht, die Stadtabende wohl inhaltlich, nicht aber pekuniär, immer teurer zu verbringen. Vom erhöhten - um nicht zu sagen sublimen – Aussichtspunkt Balkoniens nehme ich Maß, wie der Stadt sich anzunähren sei - und das Maß wird zum Ziel. Zuvor wird vielleicht noch der literarische Stadtkontrast zum Stereotyp des Sommerurlaubs am See heraufbeschworen mit Faltbootfahren, nicht unbedingt glücklich verlaufenden Urlaubsbekanntschaften, Gelsenplage und Sonnenbrand. Dies am Beispiel von Arno Schmidts Seelandschaft mit Pocahontas und der in besagtem Balkonien sich ein weiteres Mal bestätigenden Erkenntnis der unerreichbaren literarischen Qualität des Autors Schmidt, der mir so bestenfalls ein Onkel Arno im Geist bleiben muss. Während also salopp gesagt alle die Stadt verlassen haben, obwohl die Badeseen weiter untertemperiert bleiben, lässt sich’s ganz gut herumindianern in den urbanen Jagdgründen und gleichwohl unverbindlich dürfen per Digitalkamera die Stadtveduten manipuliert und die Perspektiven versch(r)oben werden, die beispielsweise das Kunsthaus auf einer Lichtung im Dschungel mit Flusslandschaft auftauchen lässt (2). Zudem fällt der Kulturhauptstadtstress weg, von Veranstaltung zu Veranstaltung jagen zu müssen, gesehen haben zu müssen, darüber geschrieben und erzählt haben zu usw., stets im Bewusstsein, das alles kann man unmöglich selbst gesehen haben ...

Sommerreisen in die Bilder der Stadt
Dem Reisen als persönliche Entfernung von Graz mit all seinen Formalitäten an Reisevorbereitungen, Kostenüberschlagung, Buchungen, Kofferpacken et alia steht das Reisen lassen als Variante gegenüber. Von ihren Reisen werden mir die Freunde Geschichten und Erzählungen mitbringen, deren Schilderung ich mich genussvoll und gefahrlos aussetzen werde. Bis dahin nähern sich im Verlauf meiner Kopffahrten internationale Destinationen der Stadt an und ziehen ein wie das Empire State Building, das für die Zeit der Renovierung anstelle der Herz-Jesu-Kirche erbaut wurde (3). Eine Simulation New Yorks, nach dem Motiv aus Franz Kafkas Amerika-Roman, steht mit Hartmut Skerbischs Lichtschwert schon seit 1992 in Graz. Kafkas fiktiver Protagonist sah bei Ankunft in New York ein Schwert in der Hand der Freiheitsstatue. Neben Skerbischs hat ein Bauunternehmen eine kranartige Zwillingssplastik errichtet (4). Und weil ich gerade am Opernring fotografiere, fällt mir auf, dass die wenigen in Graz verbliebenen Menschen sich diszipliniert an die Anweisungen auf Werbeplakaten halten: Living in Motion ist nicht allein Titel der aktuellen Kunsthausausstellung, es ist auch Motto der Radfahrer (5). Reiseziele nähern sich traditionell Graz an: Seit der Renaissance haben Meister aus Italien, und vor allem vom Comer See, ihre Baustile bis Südbayern verbreitet, Italien und die Grenze zum Süden weiter in den Norden verschoben, ja sogar Afrika erlebt eine Kontinentalverschiebung in Richtung Schloßberg was ich unten noch näher ausführen möchte.

Die selbstreferenzielle Stadt, Prädikat „ausverkauft“
Sechs Tage und die Mopedfrau von Alfred Schwarzenberger läuft seit mehr als einem Monat im Rechbauerkino und muss ja nicht mehr empfohlen werden. Nach dem Publikumsinteresse zu schließen, müsste jeder Bewohner des Herz-Jesu-Viertels den Film schon mehrmals gesehen haben. Man geht also in ein Kino des Stadtviertels, um eben dieses Viertel, sich selbst und die Nachbarn aus der Kameraperspektive von Wolfgang Rauch und vielleicht als zweite Wirklichkeit zu erleben. Die Stadt erzählt sich quasi selbst, wird zur Erzählmaschine mit 70prozentigem Wirkungsgrad zur Realität.
Ähnlich steht es um eine Ausstellung im Kulturzentrum bei den Minoriten. Sabine Richter transferiert mit insight-out Bilder der Stadt, genauer der Stadthalle, an einen zweiten Ort im Makrokosmos des Stadtgefüges. Die Autorin konstruiert mittels maschinellen Blicks der Spiegelreflexkamera Ausschnitte und Ansichten, die dem menschlichen Auge verborgen bleiben müssen. Und so erzählen diese Fotografien von der Möglichkeit exklusiver Ein- und Aussicht.

Platz nehmen und Raum be-sitzen
Kaum anzunehmen ist, dass Michael Wrentschur und InterAct, die Werkstatt für Theater und Soziokultur die Stadt verlassen haben. Wie ich selbst, arbeiten auch InterAct ständig an neuen Bildern von Graz. Die Erfinder des Kettenfrühstücks Permanent Breakfast nehmen sich mit ihren Aktionen der Frage nach Öffentlichkeit des Stadtraumes an, indem sie schon im Vorjahr einen Sesselverleih für den an Sitzgelegenheiten unterbestückten Hauptplatz initiierten. Gegen geringen Pfand konnten sich Passanten Klappsessel mieten und entsprechend der örtlichen Vorliebe Platz nehmen. Wie das InterAct-Foto dieser Aktion zeigt, lag dem Erzherzog noch kein Lorbeerkranz zu Füßen und auch Kulturstadtrat Buchmann (links im Bild) macht einen recht entspannten Eindruck (6). Auf dem Hauptplatz Platz zu nehmen fällt in diesem Jahr – trotz einer entsprechenden Petition seitens InterAct an die Stadtregierung, den Sesselverleih zur permanenten Einrichtung zu machen – ungemein schwerer und noch ist die bürgermeisterliche Lösung des Problems um sich unbürgerlich betragende Bürger (?) nicht bei allen Grazern als solche, nämlich als Lösung, akzeptiert. Allen Betroffenen und besonders dem Stadtoberhaupt sei zur sommerlichen Lockerung und Transponierung von Realität in Fiktion die Lektüre des eben bei Rowohlt erschienen Romans Dorfpunks von Rocko Schamoni empfohlen.

Wirklichkeit im Weltkulturerbe
Alle haben Graz verlassen: Seit die Kurzparkzonen in den Randbezirken erweitert wurden, nimmt die Zahl geparkter Autos zusehends ab. Die vormals von Dauerparkern stark frequentierte Leechgasse scheint ihrer Funktion enthoben zu sein und wird in den nächsten Jahren wohl vom urbanen Grüngürtel verschlungen werden. Die rechtzeitige Umwidmung zum zweispurigen Radweg wäre angebracht (7). Derzeit verweist ein Straßenkunstwerk auf dem ungenutzten Gehsteig durch einen stadtauswärts gerichteten Pfeil auf den Ort von True Love (8).
Auf dem Griesplatz kommt ein anderer Stadtabenteurer auf seinem Fahrrad auf mich zu, ein kleiner Junge namens Hamed (9). Was ich denn hier fotografiere, fragt er, und ich zeige ihm die Bilder auf dem Display: Ein Bauunternehmen, das mit Namen und Slogan ... baut auf! für sich wirbt, beobachte ich seit dem letzten Jahr bei Abbrucharbeiten ehemals als Denkmal geschützter Häuser, immer im Auftrag derselben Investorengesellschaft. So beim Kommodhaus, jetzt am Haus Griesplatz 24 (10, 11). Anders als damals gehen die Abbrucharbeiten ohne jeden Protest voran, weil ja alle Grazer in Urlaub gefahren sind.

Was anstatt einer Urlaubsreise in Graz zu erledigen ist
Meinen Auftrag, Graz nicht zu verlassen, nehme ich in den nächsten Tagen durch Besuch nachstehender Veranstaltungen wahr: Am 30. Juli spielen Roland Neuwirth und seine Extremschrammeln in der Brücke auf und bis zum 31. wird im Forum Stadtpark Actionseeker der Little Drama Boyz gegeben. Mit dem August kommt auch das Straßentheaterfestival La Strada und ab 6. August Michael Moores Fahrenheit 9/11 ins Augartenkino. Zuvor treten am 31. Juli, anlässlich des Sommerfestes der Werkstadt Graz und des Restaurants Teranga, zwei illustre Fußballmannschaften am Platz des Landessportzentrums die Wuchtel: Das Stadtmuseum Wels / Medienkulturhaus tritt unter dem Titel NACHSPIEL gegen das Team der Werkstadt Graz an. Auf Seiten der Grazer stehen die Kunstfußballer Christian Eisenberger, Abdulie Jallow, Markus Haslinger (XXkunstkabel), Josef Klammer, Sandra Ziagos, August Baur, Max Aufischer, Volker Sernetz, Kristian Paternusch, Josef Taucher, Georg M. Zischka, Andreas Leikauf, M.S.Umesch (Gastkünstler / Indien), die alle allein aus diesem Anlass kurzfristig ihren Urlaub unterbrochen haben um nach Graz zurückzukehren. Da werden Zuschauer und Fans gebraucht und im Anschluss gibt es das Teranga-Sommerfest auf dem afrikanischen (siehe oben) Schlossberg, keineswegs jenseits von Afrika. In den Tagen darauf finden Sie mich, nachdem es ja kein Kommod mehr gibt, im Stockwerk oder Lokal Müller, um mir - bei Missfallen dieser Sommergeschichte um einen sich nicht von Graz, vielmehr aber von der Realität entfernenden Stadtabenteurer - in personam Eins auszuwischen. Im Übrigen warte ich entspannt auf die Rückkehr der Reisenden um mir erzählen zu lassen, wie die wirkliche Welt aussieht und vielleicht gelingt es bis dahin noch, eine Karte für die Mopedfrau zu ergattern.

Verfasser/in:
Wenzel Mracek
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