16/08/2009
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EMIL GRUBER
Let’s Zeppelin, Teil 2:
Lenkbares Treibgut. 100 Jahre Erstflug der Gebrüder Renner über Graz

Graz 1909. Ein Fußballverein namens Sturm wurde gegründet. Ein vom Wiener Tierplastiker Jarl gegossener Löwe wurde am Schlossberg ausgesetzt, als Denkmal für einen Major Hackher, der hundert Jahre früher einen anderen Sturm, nämlich den der Franzosen, auf die damalige Festung erfolgreich verhinderte. Und ein zigarrenförmiges Ding namens Estaric, das einen Sturm auch nicht gerade gebrauchen konnte, wurde erstmals einer staunenden Menge präsentiert. Am damaligen Grazer Trabrennplatz, zur Eröffnung der Grazer Herbstmesse, starteten zwei Brüder - gerade 16 und 18 Jahre alt - am 26. September 1909 das erste lenkbare Luftschiff in Österreich. Anatol und Alexander Renner waren gemeinsam mit ihrem Vater Franz eine weit gereiste und sehr erfolgreiche Artistenfamilie.

Nach einer Nordamerikatournee von den dortigen Lenkballonen wie dem „fliegenden Schneckenhaus“ des kalifonischen Luftfahrtpioniers Thomas Baldwin oder des von Roy Knabenshue gebauten Airships Toledo inspiriert, experimentierten sie seit 1906 in der Steiermark an einer Eigenkomposition. Das “lenkbare Luftschiff nach amerikanischem System” war nach eigenen Angaben selbst konstruiert, obwohl Gestell, Ruder und Hülle des über 30 Meter langen mit Wasserstoff befüllten Geräts sehr den Überseevorgängern ähnelten, was später manche Zweifler zu Behauptungen veranlasste, dass die wesentlichen Teile schon in Amerika gekauft wurden und die Renners in Graz nur mehr die Teile zusammenfügten. Als sicher gilt dagegen, dass Motor und Propeller als eine der ersten technischen Großtaten im legendären Grazer Puchwerk gefertigt wurden.

Aber wer will hundert Jahre später im Zeitalter des Copy & Paste schon mit Steinen werfen? Zitieren wir lieber einen zeitgenössischen Bericht der „Kleinen Zeitung“ (nach Max Mayr in den „steirischen berichten 5/99):
„Es war reichlich vier Uhr, als der ESTARIC startklar wurde. Riesenaufregung in der Halle. Endlich ist alles soweit. Der gelbe, 30 m lange Koloss kommt aus der Halle. Kommandoworte von Papa Renner. Das Luftschiff wird losgelassen, schwebt jedoch langsam zur Erde. Es ist zu schwer. Noch mehr Sand abwerfen. Neue Probe. Nun hält es in der Luft. Der Motor knattert, der Propeller surrt, das Luftschiff entschwebt. Nun vollzieht sich das unvergessliche Schauspiel des Hinaufgleitens des mächtigen Schiffsleibes in sein Element. Enthusiastischer Jubel der vielen Tausend, die Musik fällt ein, Alexander und Anatol schwenken oben ihre Mützen. Die erste Fahrt war geglückt. Ihr folgten im Verlauf der folgenden Tage noch weitere acht Fahrten, wobei der ESTARIC wiederholt über Graz manövrierte.“
Zwar verschwieg die euphorische Schilderung die Schwierigkeiten – beim Erstflug blockierte die Lenkung, und die Estaric musste seinen geplanten Stadtrundflug am St. Peter Friedhof begraben. Am nächsten Tag konnte wegen der permanent sich aufstellenden Nase der Lenkballon nur mühselig nach vielen Versuchen gelandet werden – aber der Begeisterung der Grazer Zuschauer tat dies keinen Abbruch.
Richard Kutschera beschreibt im historischen Jahrbuch der Stadt Linz von 1962 in seinem Aufsatz „Luftfahrt und Flugwesen in Linz“, wo die Estaric später auch ihre Runden drehte, den flugtechnischen Wagemut, mit einem solchen Gerät den sicheren Boden zu verlassen: „Die Höhensteuerung erfolgte in der Weise, dass die Führer des Luftschiffes im Reitsitz auf dem Traggerüst vor- und rückwärts glitten und so die Spitze des Ballons auf- oder abwärts richteten…. Irgendeine Vorrichtung zur Stabilisierung besaß der Ballon nicht. Ebenso wenig eine solche, den Ballon prall zu halten. Deshalb geschah der Aufstieg stets bei Gasüberdruck im Ballon. Reißvorrichtungen für Notlandungen besaß der Ballon nicht, sondern nur Stoffstreifen, die notfalls heruntergerissen werden konnten.“
Doch vor Linz kam noch die eigentliche Hauptperformance der Luftakrobaten. Knapp drei Wochen nach dem Grazer Jungfernflug hatten sie am nächsten Trabrennplatz einen Auftritt. Diesmal vor dem Kaiser und rund 40.000 Zuschauern in Wien. Auch diesmal entgingen sie nur knapp einem Unglück. Das Gestell des Schiffs kollidierte beim Abheben mit dem Dach der Zusammenbauhalle, Alexander Renner verlor das Gleichgewicht und musste abspringen. Das nun erst recht nicht austarierte Schiff stellte sich senkrecht und entwickelte sich zu einer Rakete, die nun senkrecht in den Himmel startete. Wenn man den Berichten glauben schenken kann, erreichte es eine Höhe von rund 1500 Metern: Anatol Renner blieb nichts anderes übrig, als den Motor abzuwürgen und mit einem Messer die Ballonhülle anzustechen, damit Gas entweichen konnte. Er schaffte es trotzdem, ohne weiteren Schaden in Strebersdorf notzulanden und von dort sogar wieder alleine starten und zum Trabrennplatz zurückzufliegen.

Trotz all dieser Missgeschicke feierte Österreich seine Helden. Das veranlasste die Renners später ein weiteres, doppelt so langes Luftschiff zu bauen. Auch die „Graz“, die nun schon mit einer richtigen schlanken Gondel ausgerüstet war und sich an den erfolgreichen deutschen Parseval-Luftschiffen orientierte, wurde rasch zum Star und Publikumsmagneten. Der erste Weltkrieg beendete jedoch alle weiteren Experimente. Alexander Renner blieb aber nur kurz am Boden und wurde Jagdflieger.

EMIL GRUBER
lebt in Graz.
Bildermacher, Schreiber, Spaziergänger.
KONTAKT: katmai@aon.at
http://ortlos.com/photography

Verfasser/in:
Emil Gruber
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