08/06/2008
08/06/2008

sonnTAG 230

Früher Morgen nach einem Zeichensaalgschnas

Kaffeepause in der "Dreier"-Küche

Kochen für alle, die da sind

„Im Dreier. Eine Lebensgemeinschaft auf Zeit“.
Über studentisches Arbeiten und Leben in einem Zeichensaal der späten 1970er Jahre.

Verfasst von Karin Tschavgova zum Motto „Gemeinsam statt einsam“, dem Thema des HDA-Programms für die Jahre 2008 und 2009.

„Try just a little bit harder“ schrie sich Janis Joplin 1976 im „AZ3“ aus dem Leib, aber da war sie schon einige Jahre tot - gestorben an einer Überdosis ihrer Lebenssucht. Was sie sang, galt auch für uns junge Architekturstudenten und -studentinnen, die wir uns für mehr als eine reine Arbeitsgemeinschaft in einem der vier Zeichensäle der Technischen Hochschule in Graz zusammengefunden hatten. Was wir tagtäglich praktizierten, war eine temporäre Lebensgemeinschaft ohne großen ideologischen Überbau und theoretische Basis.
Wir lebten – und das intensiv. Mehr wollen und fordern, sich selbst und den anderen alles abverlangen - raus aus dem Mittelmaß war unsere ungeschriebene Devise. Unsere geballte Energie machte Neuankömmlingen im Zeichensaal 3 sicher mehr Angst, als sie zugeben wollten und konnten. Dabei waren die, die nach einer angemessenen Zeit des Studierens die Aufnahme in den „Dreier“ geschafft hatten, in der Regel sowieso die Robusten, Durchsetzungskräftigeren. Jene mit losem Mundwerk und dem Mut, mitzureden. Sie waren in der Lage, beim stets gemeinsamen Kaffee am langen wackeligen Holztisch ein griffiges Statement zur Mittelmäßigkeit der damaligen Professoren an der Grazer Architekturfakultät abzugeben und hatten die Lacher auf ihrer Seite. War man nicht von Natur aus ein eloquenter Redner oder zumindest „goschert“, so musste man sich geschickt tarnen, sollte mindestens eine gute alkoholische Absturzgeschichte auf Lager haben oder ein riskantes Überholmanöver auf der Landstraße. Am besten beides in Kombination.
Natürlich gab es auch immer wieder solche, die wenig redeten, die geschickt ihr Schweigen kultivierten und sich damit begnügten, bei passender Gelegenheit eine ironische oder kryptische Bemerkung in die Diskussion zu werfen. Auch das sicherte eine Mitspielerposition, wurde gewürdigt. Schon eher schwierig schien für viele von uns, jene anzuerkennen, die in keines dieser Verhaltensmuster passten, die nicht einmal die feine Klinge der Ironie zu handhaben wussten und wenig zum von vielen erwarteten Spaß beitragen konnten.
Doch auch diese unzeitgemäßen Außenstehenden und Stillen gab es im „Dreier“. Sie kamen regelmäßig, arbeiteten ruhig und bedächtig vor sich hin, fielen kaum auf. Sie schienen häufiger mit dem Erlernen von theoretischem Prüfungsstoff oder mit Statikprogrammen beschäftigt als mit Entwurfsproblemen. Arbeiten, die ihr kreatives Potenzial erforderten, begannen sie mit gründlicher und aufwändiger Recherche und mit unzähligen Arbeitsmodellen, begleitet von spürbarer, kaum thematisierter Unsicherheit und von Selbstzweifeln. Zugute kam ihnen, dass sie die Architektur offensichtlich sehr ernst nahmen. Ein, zwei solcher Charaktere im AZ 3 der späten 1970er Jahre - mehr vertrug der Sog der Powertypen nicht zur gleichen Zeit. Alfred war einer von diesen. Sie zeichnete Toleranz und Hilfsbereitschaft aus, die ihnen Anerkennung verschaffte und auch sie zu geschätzten Mitspielern werden ließ, obwohl ihre Rolle etwas von einem Gastauftritt an sich hatte. Über ihre Lebenseinstellung, ihre Sorgen, über ihre Familien wusste man wenig.
Allzu Privates wurde in der Gruppe generell ausgespart, obwohl wir den Großteil des Tages miteinander verbrachten, abwechselnd füreinander kochten und abends regelmäßig gemeinsam ins Gasthaus oder in eine jener vorstädtischen Weinstuben gingen, die einer von uns entdeckt hatte und stolz als Geheimtipp anpries. Dort wurden aus einem schier endlosen Repertoire schrullige Geschichten oder abenteuerliche Erlebnisse erzählt, etwa vom letzten Segeltörn. Sie waren mindestens so beliebt wie lebhafte Diskussionen über Architektur – ach, wie wurde die Wiener Architektur zerrissen, die neuesten Arbeiten der damals etablierten Architekten vernichtend kritisiert. In einer solchen Atmosphäre der zur Schau gestellten Souveränität konnte es schon einmal vorkommen, dass das mehrtägige lautlose Weinen einer Kollegin im Zeichensaal ebenso tunlichst übersehen wurde wie das sichtliche Alkoholproblem eines anderen. Der Hang zum exzessiven Leben war eindeutig positiv besetzt. Er wurde gleichgesetzt mit Intensität und ansteckender Energie, die uns zu Höchstleistungen anspornen sollten. Bei einigen wenigen jedoch führte der unausgesprochene Gruppenzwang dazu, dass sie ständig glaubten, Stärke und Ausdauer beweisen zu müssen. Vermutlich ist deshalb der eine oder andere ohne Erklärung für längere Zeit weggeblieben - abgetaucht, um sich zu erholen, frei nach dem Motto des Godard’schen Filmtitels „Sauve qui peut - la vie“ (Rette wer kann - sein Leben, 1979).
Blicke ich auf meine eigene Zeichensaalzeit zurück, so empfinde ich sie als wichtige Bereicherung meines Lebens weit über das Studium hinaus. Ich war eine jener Robusten. 1975 gab man mir einen Platz im Zeichensaal ganz ohne Vorbedingungen und Aufnahmeritual. Es war eine Art „Familienzusammenführung“, denn ich hatte mich in einen Studenten verliebt, der zur damaligen Kerngruppe des Zeichensaals zählte. Die Zeichensäle kannte ich bis dahin nur vom Hörensagen, den Dreier von einer einzigen Konfrontation anlässlich einer Beratung für Erstsemestrige. Noch Jahre danach hat die Erinnerung an jenen Abend in mir ein zwiespältiges Gefühl hervorgerufen. Arrogant wirkende männliche Kollegen, die mir damals schon ziemlich alt vorkamen (sie waren zwischen 24 und 27) hatten uns Greenhorns unter beifälligem Lachen der anderen ein abschreckendes Bild vom Architekturstudium in Graz gemalt. Ob sie uns bewusst verunsichern wollten? Ich erfuhr es nie, denn als ich, neu in der Runde, von meiner damaligen Erfahrung erzählte, wollte sich keiner an eine derartige Provokation erinnern.
Ab diesem Zeitpunkt ist mir persönlich nie mehr jene Überheblichkeit begegnet, die man den Studenten in Zeichensälen nachgesagt hat, wohl aber ein Elitedenken, das sich gegen alle „draußen“ richtete. Ob zur Schau gestellte Coolness, kollektive Nichtzuständigkeit oder einfach nur „in Arbeit vertieft sein“ Gründe dafür waren, dass Eintretende meist nicht begrüßt wurden, ist mir nie klar geworden, jedenfalls konnte ich mich bis zum letzten Tag meiner mehrjährigen Mitgliedschaft im „Dreier“ nicht daran gewöhnen. Auch innerhalb der Gruppe schien es ein unausgesprochenes Agreement darüber zu geben, dem Anderen nur dann nahe zu treten, wenn dieser einen solchen Wunsch signalisierte und ansonsten jedermanns Leben außerhalb unserer Gemeinschaft nicht zu hinterfragen.
Zeigte jemand kein Bedürfnis, über einen Entwurf zu sprechen und sah keine Notwendigkeit, um Rat zu fragen, so wurde auch das weitgehend akzeptiert. Niemand wurde gedrängt, seine Arbeit zu präsentieren oder gar zu verteidigen. Das war nicht Gleichgültigkeit, sondern entsprach unserer Vorstellung von Toleranz. Beanspruchte man hingegen Rat oder Hilfe, so fand sich immer jemand, der sich Zeit nahm, zuzuhören, sich auf ein Thema einzulassen und sich mit dem Problem des Fragenden auseinanderzusetzen. Aus einem Zwiegespräch konnte sich rasch eine Diskussion im größeren Kreis entwickeln, in der schonungslos kritisiert wurde. Dann galt es, sich der Diskussion zu stellen, zu argumentieren und sich verteidigen zu können. Von solchen Auseinandersetzungen lernte ich mehr, als ich je bei der öffentlichen Präsentation eines Entwurfs vor dem Professor, den Assistenten und Jahrgangskollegen profitiert habe. Galt es bei dieser, eine Idee zu verbalisieren, verständlich zu erklären und souverän und überzeugend zu präsentieren, so lag der Nutzen des Zeichensaalpalavers darin, unterschiedliche strukturelle Herangehensweisen an ein Problem zu hören, andere Denkmuster und Prioritäten kennen zu lernen - sein eigenes Denken zu hinterfragen, zu relativieren und seinen Denkhorizont zu erweitern. Daneben gab es ganz pragmatische Vorteile. Hilfe bei Grundlagenforschung, heiße Tipps, Informationsgewinn in kurzer Zeit waren Teilchenbeschleuniger für die eigene Arbeit. Praktische Hilfe war eine Selbstverständlichkeit. Tage wurden geopfert, um einem Kollegen zu ermöglichen, einen Abgabetermin einzuhalten. Nicht selten waren Diplomarbeiten in ihrer Endphase kollektiv verteilte Aufgaben. In kaum unterbrochener Tag- und Nachtarbeit wurde jedem eine nützliche Rolle zugewiesen; es gab den Modellbauer, den Spezialisten für Perspektiven, den Berichtverfasser, den Koch (und die Köchin) den Weineinkäufer (Doppler selbstverständlich).
In solchen Situationen, zu denen auch die Organisation der berühmten Gschnasfeste in den Architekturzeichensälen zählte, konnte der Zeichensaal sein Potenzial in Höchstform ausspielen. Stress beflügelte uns, Aufgaben wurden demokratisch verteilt und der riesige Aufwand der Vorbereitung wurde mit enormer Selbstausbeutung und erstaunlicher Professionalität von allen gemeinsam gemeistert. Für eine begrenzte Zeit wuchs die heterogene Gruppe von Einzelpersönlichkeiten anlassbezogen zu einer Familie zusammen. Auch in dieser Hinsicht war die gemeinsame Zeit im Zeichensaal eine gute Lebensschule.

LITERATURHINWEIS
open:24h
workground playground
edition selene, Wien, 2003
Alois Gstöttner, Claudia Kappl, Fabian Wallmüller, Claudia Zipperle (Hrsg.)

DI Karin Tschavgova ist Architekturpublizistin und Architekturvermittlerin. Sie studierte an der Architekturfakultät der Technischen Universität Graz; Diplom bei Architekt Günther Domenig. Die Autorin lebt und arbeitet in Graz.

Verfasser/in:
verfasst von Karin Tschavgova zum Motto "Gemeinsam statt einsam"
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