30/07/2006
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sonnTAG 139

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Herr Ingenieur Titan Honner am Empfang

Herr Ingenieur Titan Honner am Empfang

Ragnitzbad – Baden zuhause bei Herrn Titan Honner

Eigentlich gehört mir der Wörthersee.

Klettern die Temperaturen in Richtung 30 Grad, macht mich das so sehnsüchtig, dass ich mir vornehme, sobald ich das Frühstück hinter mir habe, ins Ragnitzbad zu radeln; Wasser kann bekanntlich das Gemüt kühlen. Auf dem Weg in den Keller kommt mir mein Radl förmlich entgegen, das sich bei diesen Temperaturen sichtlich noch gut an die Hitzeschlacht der Tour de France erinnert und an deren mittlerweile ehemaligen Sieger Floyd Landis – sei’s drum, wäre er doch Schachspieler geworden. Ich dagegen geh’ jetzt schwimmen. Die Ragnitzstraße entlang und vorbei am ehemaligen Gasthof „Zur Schwalbe“, vor der Pizzatankstelle zeigt ein unscheinbarer Wegweiser an einer Fichte nach rechts zum noch unsichtbaren Ragnitzbad, das sich in diesem Vorstadtbereich zwischen Einfamilienhäusern und Gärten am Ragnitzbach versteckt.

1913 führte der Ragnitzbach Hochwasser, das eine große Mulde im Bereich des heutigen Bassins ausschwemmte, in der die Grazer fortan badeten. 1929 baute der Bäckermeister Ullrich hier ein Betonbecken, eine wunderbare Idee, die sich als zukunftsträchtig erweisen sollte. Ingenieur Titan Honner übernahm 1966 das Bad von seinem Vater und betreibt mittlerweile mit seinem Adoptivsohn Andreas Steiner dieses Kleinod, das letzte privat geführte Bad in Graz, nach dem inzwischen geschlossenen Pammerbad. Herr Honner wohnt auch gleich nebenan. Das Bad wirkt fast wie sein erweitertes Wohnzimmer und dementsprechend wird es auch liebevoll gehegt und gepflegt. Neben all den anderen Arbeiten, die mit dem Bad verbunden sind, übernimmt Herr Honner den Empfang, Herr Steiner ist Bademeister.

Auf der 5000 Quadratmeter großen Liegewiese suche ich mir unter einem kleinen Apfelbaum mein Plätzchen – Obstgartencharakter und dazu ein blaues Schwimmbecken mit blauem Bassinhintergrund, gegen den leichte Wellen klatschen, als sprächen sie miteinander. Die Kabinenanordnung erinnert an farbig bemalte Bienenkästen, in denen statt der Bienen Menschen emsig ein und ausgehen. Mit dieser Kabinenkolonie stellt Herr Honner den Besuchern seines Bades eine gute Behausung zur Verfügung und hilft ihnen, über heiße Sommer zu kommen.

Städtische Freibäder dürfen wohl als Kulturphänomen bezeichnet werden, das den Menschen die Möglichkeit bietet, sich auch im Stadtraum kurze Abkühlung zu verschaffen, beziehungsweise einen Tag überhaupt am nah gelegenen Wasser zu verbringen und sei es im künstlich hergestellten Ambiente einer städtischen Badeanstalt. Zu Anfang des 20. Jahrhunderts erfüllte diesen Zweck noch die Mur, bis nicht zuletzt deren bedenkliche Wasserqualität dem Badespaß ein Ende setzte. Es sollte wohl Aufgabe der Stadtverwaltung sein, für die Erhaltung öffentlicher wie auch privat geführter Bäder in Hinblick auf eine zeitgemäße urbane Lebensqualität zu sorgen. Vor allem Kinder – und Kinder wie wir – wollen schwimmen und plantschen. Die 11.900 Euro an Subventionen von der Stadt sind zwar ein wichtiger Zuschuss, decken im Ragnitzbad jedoch nicht einmal die Fixkosten. Gewinn schaut auf die Art keiner raus, schlimmer noch: Herr Honner wendet sogar einen Teil seiner Pension für den Betrieb des Bades auf, denn die Stadt hat kein Geld. Im nächsten Jahr werden von der Stadt Graz 660.000 Euro für zehn Tage Chorolympiade ausgegeben. Mit diesem Geld wäre beispielsweise die Ries-Schule für sieben Jahre versorgt gewesen – aber die ist inzwischen auch Geschichte, weil die Stadt kein Geld hat. Hätte die Stadt Geld, hätte wahrscheinlich das vorletzte privat geführte, das Pammer-Bad, überlebt …

Ich beobachte zwei ältere Damen im Bassin mit ein wenig zu klein geratenen Badekostümchen, wie sie Arme und Beine spreizen, wie sich in Schwung und Rhythmus ihre Körper strecken, um dann für einen Moment gewissermaßen innezuhalten, damit Hände und Füße wieder in die schönen Schwimmbewegungen übergehen, es scheint, als überlegten sie jede ihrer Bewegungsphasen konsequent.

Mittags suche ich das Buffet auf, die Damen dahinter wollen von mir nicht fotografiert werden, dafür bekomme ich einen überraschend guten und heißen Filterkaffee. „Da ist die Milch, da ist der Zucker“, und echt ist eben immer noch besser als perfekt. Der Mann am Nebentisch, er hat sich schon braun brennen lassen, nimmt sein Glas und gießt dessen gesamten Inhalt in sich hinein, man hört direkt das Bier in seinen Magen hinunterplätschern. Ich kann den Blick nicht losreissen, vor allem von der Badehose in den italienischen Nationalfarben, eine Art Tricolore; Italien ist Weltmeister, wir nehmen Anteil. Er gähnt, sein Mund steht noch ein wenig offen, aber sein künstliches Gebiss klappt schon zu. Nachdem er das Glas absetzt, steht er auf und geht. Immer noch von einer alten Berufskrankheit infiziert nehme ich meine Kaffeetasse, trage sie zurück ans Buffet und werde mit einem mildtätigen Nicken belohnt.

Es ist ein zum verrückt werden schöner Nachmittag, die Sonne senkt sich über das Schwimmbecken und überall dort wo die Sonne scheint, flitzen Scharen von Kindern in bunten Badekleidern umher. Viel Anlauf nehmend, genauso viel wie ich nehmen würde, springen sie ins Schwimmbecken. Ihre Köpfe verschwinden unter der Wasseroberfläche, nur ihre strampelnden Beine, phantastische Maschinen, sind noch zu sehen. Das Wasser wirft ihre Bewegungen zurück. Die Kinder stören überhaupt nicht, anscheinend werden sie in der Masse unscheinbar und doch erschallt ein Anstandsspiff von Bademeister Steiner, gemäß dem schriftlichen Hinweis am Beckenrand „Springen verboten“. Seine Trillerpfeife bringt doch mehr Orchester als ich dachte. Das Bild vor mir friert kurz ein, Sekunden später ist alles wie vorher, gar nichts hat sich verändert, das ist gut so und die Springerei geht wieder los.

Ab und zu fällt ein kleines unreifes Äpfelchen vom Baum und stört meinen Frieden, das ist alles. Ich denke an einen Bekannten, den ich hier gar nicht gebrauchen kann, da er, immer wenn wir uns treffen, unaufhörlich auf mich einredet, als sei ich ein wissbegieriges Vieh, das man stets zu füttern hat. Fein, denke ich, dass er am anderen Ende der Stadt wohnt und so sicherlich niemals bis ins Ragnitzbad findet. Als ich mich umwende, um zu sehen, wie das Bad von hinten wirkt, so wie ich gut gebaute Männer immer erst vorbeigehen lasse, um mich dann nach ihnen umzudrehen, sehe ich das Unglaubliche Wirklichkeit werden. Ich verdränge alles Unwichtige aus meinem Gesichtsfeld, es ist höchstens verschwommen präsent. Im Fokus meines Tunnelblicks steuert jener redselige Bekannte direkt auf mich zu, strahlt wie ein Honigkuchenpferd und begrüßt mich freundlichst. Ich erwidere seinen Gruß und lächle, doch mir ist überhaupt nicht danach zumute. Für einen Moment wünsche ich mich „vielleicht irgendwohin, wo’s ein bisschen öd ist“, wie ich es gerade von einem Grazer Schriftsteller gelesen habe, der sich in diesem Sommer in Klausur aufs Land begeben will. Der fürsorglichen Belagerung halte ich wacker stand, während der ich ein weiteres Mal und für den Rest des Badetages die Welt erklärt bekomme – deren Zentrum sich solcherart ins Ragnitzbad verlagert hat.

Ragnitzbad, Pesendorferweg 7, 8047 Graz

Katharina Gabalier, geboren 1974 in Klagenfurt, Kunsthistorikerin, schwimmt in Graz.

Verfasser/in:
Katharina Gabalier
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