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Statements
Eine kritische gesellschaftspolitische Bewegung
In zwei Jahrzenhnten sind Baugruppenprojekte in Berlin ein fixer Bestandteil des Wohnbaus und der Stadtentwicklung geworden. Durch gemeinsame Planung der zukünftigen Bewohner sind bedürfnisgerechte Lösungen und Antworten auf zentrale Fragen des Wohnens entstanden. Sozial nach innen, wirken diese Projekte ebenso nachhaltig nach außen ins Quartier. Das stellt auch Michael Müller, Senator für Stadtentwicklung und Umwelt, Berlin fest: „Kristin Ring stellt in ihrem Buch mit präzisem Blick auf die Details die Entwicklung von Baugruppen in ihrer ganzen Breite vor und (...) dass hier auch eine kritische gesellschaftspolitische Bewegung in Gang gekommen ist, die sich als Alternative, ja als Gegenmodell zum investiven Bauen versteht“. (1)
Kultur der Freiheitsräume
Aufgrund seiner Insellage, des Zuzugs von Kreativen und der Geldflüsse des Bundes entstand lt. Rolf Novy-Huy zwischen 1970 und 2000 eine deutschlandweit einzigartige stabile alternative Kultur der Freiheitsräume. Allerdings haben danach auch die Berliner lernen müssen, mit den üblichen Instrumentarien und eigenem Geld, Projekte zu realisieren. „Internationale Investoren entdecken jetzt die Stadt, die Mieten steigen und Brachflächen wie leere Gebäude nehmen rasant ab“. (2) Jedoch hatte die Selfmade-Kultur der Baugemeinschaften ohne nennenswerte Förderungen und Unterstützungen seitens der Politik zukunftsweisende Lösungen des Bauens und Wohnens zustande gebracht und darüber hinaus Berlin mitgestaltet. (3)
Große Bandbreite der Lösungsansätze
Die Vielfalt der Projekte und die große Bandbreite der Lösungsansätze sind die Besonderheiten dieser Kultur der Baugruppen, die nach dem Motto Entwickle dich selbst, entwickle die Stadt arbeiten. Matthew Griffin, Architekt und Mitglied der Initiative Stadt Neu Denken ist überzeugt, dass die Stadt von der zunehmenden Beteiligung der Bewohner nur profitieren kann. (4) Und Florian Heilmeyer, Architekturjournalist und Kurator, Berlin stellt fest: „Das Prozesshafte, das Unklare, das Unfertige ist nicht das Gegenteil von Architektur, sondern kann ihren Kern bilden. Ein solches Verständnis von Architektur als flexible, transformative und eher auf eine Strategie als auf ein Ergebnis ausgerichtete Stadtveränderungskunst könnte uns in den nächsten Jahren enorm hilfreich und vielleicht typisch Berlin sein.“ (5)
Lokalspezifische Netzwerke
Nikolai von Rosen weiß, dass Baugruppen über das Bauen hinaus lokalspezifische Netzwerke gegründet haben und diese auch verwalten. Es werden Bürgerinitiativen zu verschiedenen Themen wie Mietpreiserhöhung und bedarfsgerechte Stadt gegründet, aber auch Einrichtungen zur Kinderbetreuung betrieben oder gemeinsam in der Stadt gegärtnert. Aus der jeweiligen Situation heraus würden Ideen entwickelt, sodass von einer „Befreiung aus den Fesseln veralteter Stadtplanung von oben gesprochen werden kann. “ (6)
Reaktion auf starre Wohnungstypologien
Selfmade sei, so Architekt Jörg Ebers, die Reaktion auf die starren Wohnungstypologien des Immobilienmarktes, der es verabsäumt, aneignungsfähige Räume hervorzubringen. Selfmade brauche aber auch verantwortungsbewusste engagierte Akteure und genug verfügbare Grundstücke oder Bestandsobjekte. Er bezweifelt, dass Politik und Verwaltung diesen Unternehmungen überhaupt nützen, weil die Gefahr bestehe, dass Förderkriterien einem Projekt - speziell am Anfang - schnell die Leichtigkeit nehmen können. (7)
Immobilienmarkt ist viel zu teuer
Architekt Christian Schöningh hofft, dass es den Baugruppen gelingt, den Immobilienmarkt mit seinen viel zu teuren und qualitativ schlechten Angeboten am Wohnungsmarkt zurückzudrängen. Denn: „Nonprofit bedeutet nicht nur die Erreichbarkeit von selbstgenutztem Wohnraum für durchschnittliche, unter Umständen sogar unterdurchschnittliche Einkommensgruppen, sondern in jedem Fall, dass der abtransportierte Gewinn eines Bauträgers bei den Bauherren verbleibt und für weiteres lokales Wirtschaften zur Verfügung steht. “ (8)
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Anhang
Geschichte der Selfmade-Kultur in Berlin
1980 - 2002 Selfmade begann in den 1980er Jahren, vor allem anlässlich der IBA 87, als es der Stadt gelang, über 100 alte Mietshäuser im Bezirk-Kreuzberg zu retten, indem sie an Hausbesetzer verkauft oder vermietet wurden; allerdings mit der Auflage, die Häuser nach Vorgaben und Förderrichtlinien zu sanieren. Nach der Wende erlebte Kristien Ring, die Architekturstudentin aus Amerika, den heruntergekommenen Berliner Osten hautnah als verlassenes Niemandsland, als Grauzone im wörtlichen Sinn. Jedoch hatten sich damals schon Bewohner in den Stadtteilen Prenzlauer Berg und Mitte dafür eingesetzt, dass ihre Häuser nicht weiter verfielen. In den frühen 1990er Jahren entstand dann eine starke Selfmade-Kultur, die zur Gründung der Selbstbau e. G (Baugenossenschaft) führte. Zudem ermöglichte die Stadt mit dem in der IBA 87 entwickelten Programm „Bauliche Selbsthilfe“ zwischen 1984 und 2003 über 300 besetzten Häusern in Ost- und West-Berlin eine offiziell gestützte Sanierung und Selbstgestaltung.
Diese Projekte haben sich als Vorbilder für nachfolgende eigeninitiierte Projekte in das Bewusstsein der Akteure eingeschrieben. „Im Gegensatz zu Kreuzberg wurden die Renovierungen in Prenzlauer Berg und Umgebung nicht von denjenigen ausgeführt, die in den Häusern lebten, sondern führten vielmehr überwiegend zum Austausch der Bewohner“. (9) Neue Besitzer griffen auf Gebäude zu und erhöhten die Mietpreise. Allerdings gab es noch ehe sie zugreifen konnten, viele kleine selbstinitiierte Projekte, meist gewerblich genutzte Erdgeschoßzonen, die das Straßenbild fast täglich veränderten. Auch diese Initiativen haben ihre Spuren im Gedächtnis vieler Berliner hinterlassen.
2002 - 2013
Als nach dem Ende des städtischen Förderprogramms 2002 auch das Ende der Investitionen neuer Hausherren gekommen war, blieben immer noch genügend Baulücken und Bestandsobjekte übrig, um die Fantasie neu zu entzünden. Diesmal waren es vor allem Familien, die sich ihre Wohnwünsche in der Stadt erfüllen wollten und nicht mehr auf Miete, sondern auf Eigentum abzielten. Sie entwickelten ihre Projekte selbst oder mit Architekten, wodurch eine Reihe innovativer Lösungen entstanden. Erst relativ kleine, doch mit den Erfahrungen aus diesen werden zunehmend größere Areale entwickelt. Mit den größeren Projekten kommen auch Fragen sozialer und urbaner Qualitäten in den neuen Stadtteilen ins Spiel.
Beispiel:
3XGRÜN _ Görschstrasse 48/49, Beispiel urbaner Holzarchitektur Architektur: Arge Atelier PK, Roedig. Shop (u. a. ten in one), Rozynski-Sturm und Harald Haertwig. 5 Geschoße in Holzfertigteilbauweise / Flexible, veränderbare Grundrisse / soziale Ausrichtung, Nachbarschaftskontakte, gemeinschaftliche Nutzung im Eingangsbereich, im Garten und auf der Dachrerrasse / Maisonetten im EG und 1. OG, Geschoßwohnungen im 2. und 3. OG.
Von der Bauherrenberatung, Projektsteuerung und Architektur bis hin zu Brandschutz, Gebäudetechnik und Holzbau haben sich verschiedene Fachleute zu einem Forschungsverbund zusammengeschlossen (ifuH), um gemeinsam ein Konzept zu erarbeiten. Als Ergebnis sind Strategien für mehrgeschoßige Stadthäuser in Holzbauweise entstanden, die in ein architektonisches Gesamtkonzept münden. Dieses wurde so angelegt, dass unterschiedlichste Nutzergruppen schon im Planungsstadium möglichst großen Einfluss auf die Gestalt ihres späteren Wohnraums haben. Dieses Umsetzungsmodell steht in Verbindung mit einer darauf abgestimmten Handlungsanleitung für die Projektierung, die Planern wie Bauherren als Leitfaden dienen soll. Die Planungsabläufe wurden dadurch systematisiert und die Entscheidungsprozesse der Bauherren somit vereinfacht.
(1) Michael Müller, Senator für Stadtentwicklung und Umwelt, Berlin. Selfmade City, Vorwort S. 2
(2) Rolf Novy-Huy, Stiftung trias, Hattingen. Selfmade City, Intro S. 10
(3) Constance Cremer, Stadtbau GmbH Berlin. Selfmade City, Intro S. 11
(4) Matthew Griffin, Architekt und Mitglied der Initiative ,Stadt Neu Denken‘, Berlin. Selfmade City, Intro S. 11
(5) Florian Heilmeyer, Architekturjournalist und Kurator, Berlin. Selfmade City, Intro S. 12
(6) Nikolai von Rosen, Künstler und Kurator, Berlin. Selfmade City, Intro S. 12
(7) Jörgs Ebers, Architekt Berlin. Selfmade City, Intro S. 12
(8) Christian Schöningh, Architekt, Berlin. Selfmade City, Intro S. 13
(9) Kristien Ring, Selfmade City, S. 19
(10) Kristien Ring, Selfmade City, S. 220
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Infobox
Selfmade City. Berlin
Karin Wallmüller zum Buch über Stadtgestaltung und Wohnprojekte in Eigeninitiative
Herausgeberin
Kristien Ring, AA Projects
in Kooperation mit der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung Berlin.
Jovis Verlag
Deutsch/Englisch
21 x 27 cm,
224 Seiten mit zahlr. farb. Abb.
Euro 29,80
Erscheinungstermin:
Februar 2013
ISBN 978-3-86859-167-5
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