19/12/2017

GAT veröffentlicht in der Kolumne Privatissimum vom Grilj jeden dritten Dienstag im Monat Texte zum Nachdenken.

Zur Person
Mathias Grilj (* Kamnik, SLO) lebt als freier Journalist und Schriftsteller in Graz.

19/12/2017
©: Mathias Grilj

Ay chinita que si,
ay que darme tu amor
Ay que vente conmigo chinita
A donde vivo yo

(Spanisch)

O, le naprej, o, le naprej,
dokler je še vetra kej!
(Slowenisch)

Hoo-ray, and up she rises
Hoo-ray, and up she rises
Hoo-ray, and up she rises
Early in the morning
(Irisch)

Selbstzensur rund um die halbe Uhr

Als einer, der gern über Grenzen geht, schreibe ich wöchentlich auch für ein vielgelesenes Medium, das unter liberalen Akademikern keinen besonders brillanten Ruf hat. Neulich habe ich folgende launige Glosse geschrieben und um 1:53 Uhr – ich bin Nachtarbeiter – gesendet:

"Der Experte
erweist sich!

Das Leben hat es mit sich gebracht, dass ich Experte geworden bin. Die Medien platzen ja vor Ratschlägen der so genannten Experten aller Lebensbereiche. Über ihre Aussagen kann man sich meist fein amüsieren, auch über Leute, die so etwas ernst nehmen – aber ich bin wirklich ein Experte.
Zum Beispiel für Eierspeis. Es kommt darauf an, dass man die Masse gut und rhythmisch rührt, viel Luft hineinbringt und dass das Fett hübsch heiß ist. Außerdem empfiehlt es sich sowieso, beim Kochen zarte Liebeslieder zu singen. Die verfeinern immer den Geschmack.
Dann bin ich Experte, wenn kleine Fuzzis in die Windel gemacht haben und gereinigt werden müssen. Wie man Buben putzt, ist mehr oder minder – verzeihen Sie den Ausdruck – scheißegal. Aber bei Mädchen darf man nie in Richtung Scheide wischen! Die Bescherung könnte dort nämlich zu Entzündungen führen. Also nur zum Po hinüber!
Außerdem – den Zimmerleuten abgeschaut – bin ich Experte dafür, wie man Nägel so ins Holz schlägt, dass sie sich nicht verbiegen: Man muss sie vorher abschlecken.
Noch ein Experten-Rat: sollten Sie als Rotkreuz-Sanitäter bei einem der Christkindlmärkte im Einsatz sein, wo in adventlicher Wonne bis zum Umfallen gesüffelt wird, und so einen Gefallenen transportieren müssen, und der dann im Rettungswagen das Speiben beginnt – ziehen Sie ihm rasch dessen eigene Jacke vor sein Gesicht! Sonst müssen Sie den vollgekotzen Wagen nachher selber putzen.“

So gegen Mittag ruft der Chefredakteur an und sagt, das ginge so nicht.
Übrigens habe ich mit ihm eine Abmachung: wenn ihm was nicht passt, dann streite ich nicht herum, argumentiere nicht, lamentiere nicht, debattiere nicht, diskutiere nicht um Details – ich akzeptiere einfach sein Njet. Das spart uns beiden Nerven und Zeit. Dann schicke ich halt was anderes. In den verflossenen sieben Jahren ist so etwas bei 350 Geschichten drei-viermal vorgekommen. Da bin ich Tierschützern auf die Pfoten getreten, da habe ich Politbonzen auf justiziable Art beleidigt, da ist mir einmal die Schreibfeder etwas grob aus dem Ärmel gerutscht.
Ich halte mich also eher rücksichtsvoll an die Frage, was meinem Adressaten zumutbar ist. Was er tragen kann. Ein Grundsatz des römischen Rechts lautet: Ultra posse nemo obligatur.

Beim Anruf sagt er: „Du weißt eh, warum ich anrufe.“ – „Äch, wegen des Kotzens im Rettungswagen... Nicht appetitlich als Frühstückslektüre, zugegeben, aber ich habe es oft genug erlebt.“
Nein, es war nicht das Erbrechen, es war der dritte Absatz. „Sowas mag ich nicht bringen. Was glaubst du denn, was das für Irre oder Fanatiker auf den Plan locken kann? Du schreibst von der Scheide eines Mädchens, das Windeln trägt.“ – „Naja, Mädchen haben sowas, ich habe drei Töchter und hab sie oft genug gewickelt und gebadet und ihnen dabei auch Seemannslieder vorgesungen.“ – „Wir beide verstehn uns ja, aber ich will mich nicht ständig mit irgendwelchen Trotteln abgeben müssen. Schmeiß es bitte hinaus.“

Das war ein Absatz, der aus der Erfahrung spricht und unberatenen und oft hilflosen jungen Eltern nützlich sein könnte. Den Rat mit dem Putzen von Mädchenhintern habe ich von meiner Schwiegermutter und bin ihr dafür dankbar. Gott hab sie selig! Ich habe es dann hundertfach wie empfohlen gemacht und wollte es reinen Herzens Leuten, die keine so umsichtige Schwiegermutter haben, einfach sagen. Damit sie es im Alltag richtig machen, und damit kleine Mädchen keine Entzündung durch Fäkalbakterien kriegen.

Der Abmachung gemäss habe ich am frühen Nachmittag den dritten Absatz gestrichen und an seiner statt irgendwas anderes getippt, das mit literarischer Bildung zu tun hat. Nun frage ich: In welchen Zeiten leben wir, wenn mein erster dritter Absatz einer Selbstzensur zum Opfer fallen muss?

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