16/01/2018

GAT veröffentlicht in der Kolumne Privatissimum vom Grilj jeden dritten Dienstag im Monat Texte zum Nachdenken.

Zur Person
Mathias Grilj (* Kamnik, SLO) lebt als freier Journalist und Schriftsteller in Graz.

16/01/2018
©: Mathias Grilj

„Sieht aus, als wäre das Leben ein Weg
vom Verstehen ins Nichtverstehen.“
Michail Schischkin

Wie die alten Briefe in die Seele flattern

Manchmal, wenn du von ungefähr ein Buch aufschlägst, flattert ein längst vergessener Brief entgegen, ein verwundeter Vogel, das macht noch melancholischer als Regentage. Der Brief da ist von Solomon Konstatinowitsch Apt. Geschrieben vor 31 Jahren, in noblem Deutsch und mit der Hand eines Menschen, der cyrillische Buchstaben gewohnt ist.
Da steht, jenes Bild, das unser Fünfjähriger damals bei Apts Besuch in Graz für ihn gezeichnet und dazu diktiert hat: „Extra für Dich, mit  Bastelkreiden!“ – es waren Pastellkreiden gemeint, schmücke nun seine Moskauer Wohnung und sorge stets für ein Lächeln. Vor diesem Geschenk war das Gesicht des alten russischen Juden, dessen Leben zu viel Demütigung erduldet hatte, in Freude erstrahlt.
Und das mit der Wohnung war so: Apts Frau Jekaterina sagte einmal ungeduldig, die Wände sähen einfach pfui aus und müssten dringend tapeziert werden. Er meinte: „Jaja, lass mich vorher bitte nur die Arbeit fertigmachen, die ich grad begonnen hab´.“
„Das hat dann sieben Jahre gedauert! Sieben Jahre!“ hat sie uns lachend in ihrer Moskauer Küche erzählt. Er hatte da mit der Übersetzung von Musils Mann ohne Eigenschaften angefangen, ein Buch wie ein Ziegel. Für diesen Kraftakt hat er den Österreichischen Staatspreis bekommen und nach der Ehrung auch einen Abstecher in die Steiermark gemacht.
Solomon Konstantinowitsch ist tot, mein Kind ein erwachsener Mann und selber Vater, und ich hocke da mit diesem herzvollen Brief. Leben ist schön und traurig und schön und traurig und schön. Wie ein alter Brief.

Netzwerktreffen
16. + 17.11.2023
 
GAT+