12/01/2018
12/01/2018

An
 Herrn Bürgermeister Mag. Siegfried Nagl
Hauptplatz 1, Rathaus, 8010 Graz

8. Jänner 2018

OFFENER BRIEF:
Entwicklungskonzepte – Nutzungsmix oder Flächenwidmung?

Sehr geehrter Herr Bürgermeister Nagl!

Die Durchmischung der Stadtgebiete mit unterschiedlichen Nutzungen an Stelle der monofunktionalen „Flächenwidmungen“ zählt zu den großen Herausforderungen der Urbanisierung.
Der Stadtplanungschef hat bei der Vorstellung des neuen Flächenwidmungsplans beklagt, dass „weiter große Siedlungsgebiete am Stadtrand mit mehreren hundert Wohneinheiten gebaut werden, wo eine Stadt der kurzen Wege wie ein frommer Wunsch erscheint“ und man „badet weiter die Sünden der Vergangenheit aus“ (Pressezitate)
Die Ausweisung von Freiland und Bauland mag einst als „Flächenwidmungsplan“ ein zivilisatorischer Fortschritt gewesen sein, für die Anforderungen der zukünftigen Stadt hat sie aber ihren Sinn verloren. Die anachronistische Kategorisierung in Wohngebiete einerseits und in Produktionsstandorte andererseits ignoriert die Veränderungen durch Globalisierung (Abwanderung der Industrien) und Digitalisierung (Wohnen und Arbeiten gemeinsam) und verhindert dadurch die Neuorientierung bestehender Stadtquartiere.

Die Charakteristik der bebauten Stadt ist auch in Graz im Wesentlichen durch die Zeit vor und nach dem Beginn von Individualverkehr und Massenkonsum geprägt. Die Unterschiede sind in der Verkehrs- und Gebäudestruktur deutlich erkennbar und weisen deshalb unterschiedliche Qualitäten und Potenziale auf. Für eine neue Strategie stelle ich die beiden folgenden Konzepte zur Diskussion:

  • 1. Die „innerstädtischen Gebiete“ - historische Altstadt und Gründerzeitviertel
    Urbanisierung durch Reduktion des MIV (motorisierter Individualverkehr)

Diese „innerstädtischen Stadtgebiete“ haben in Bezug auf ihre Urbanisierung die besten Voraussetzungen: hohe Bebauungsdichten, geschlossene Straßenräume und eine gute Versorgung mit öffentlichem Verkehr. Die historischen Straßenräumen wurden vor der Massenmotorisierung gebaut, sind aber durch den MIV des 20.Jahrhunderts zu stark belastet und mit diesem nicht kompatibel.

Für neue StadtnutzerInnen des 21. Jahrhunderts sind diese Stadtquartiere wegen der guten öffentlichen Verkehrsinfrastruktur höchst interessant und lebenswert. Die jüngeren Generationen haben die Qualitäten erkannt und sind bereit, den Paradigmenwechsel vom Besitz eines PKW zum Nutzen einer „sanften Mobilität“ zu akzeptieren. Durch die Entlastung der dadurch gewonnenen Straßenräume vom MIV und seine Beschränkung auf das übergeordnete Straßennetz bleiben die beruhigten Areale dazwischen den Bewohnern vorbehalten. Durch Verbreiterung der Gehsteige und durch differenzierte Nutzungen der Erdgeschoßzonen kann der öffentliche Straßenraum einem vielfältigen Stadtleben mit menschlichen Akteuren zurückgegeben werden. Dies ist zwar politisches Programm der Stadt, die Reduktion des Anteils des MIV wird aber nicht umgesetzt.
In den durch einen Raster gekennzeichneten „Gründerzeitvierteln“ schränkt der massive MIV im Zusammenwirken mit der anachronistischen, monofunktionalen Ausweisung als „allgemeines Wohngebiet“ die Chancen für einen intensiveren Nutzungsmix und damit für urbane Vielfalt ein. Die überfällige Ausweisung als Kerngebiet ist in Ansätzen vorhanden und wird langsam zu einer Ausweitung des innerstädtischen Stadtraums und zu einem integrierten urbanen Zentrum führen.
Die Verbindung des „historischen Altstadtkerns“ zu den „Gründerzeitvierteln“ ist trotz der unterschiedlichen Baustrukturen ein in sich funktionierendes System und relativiert durch intensive interne Beziehungen die monofunktionale Ausweisung der gründerzeitlichen Wohngegenden. Sie ergänzen einander und sind für eine gemeinsame weitere Entwicklung prädestiniert.

  • 2. Die großflächigen Gebiete der „Suburbanisierung“die Autostadt
    Urbanisierung durch Verdichtung, Nutzungsvielfalt und Straßenräume

Die großflächigen Gebiete (mit historischen Vorstadtkernen) rund um die „innerstädtischen Stadtgebiete“ sind als Folge von MIV und Massenkonsum über die Stadtgrenze gewachsen und die Bewältigung der Lebensfunktionen erfolgt weitgehend durch den MIV. Diese Lebensräume befinden sich zwar in der „Stadt“, sie ähneln aber eher den Lebenswelten der Bevölkerung auf dem „Land“. Eine Differenzierung ist nicht mehr sinnvoll, weil der suburbane Stadtrand dem „ländlichen Raum“ bereits näher steht als einer urbanen Lebenswelt. Viele „Städter“ leben am „Land“, und zugleich hat die einst prägende „ländliche Bevölkerung“ längst urbane Lebensweisen angenommen.
Das Phänomen der „Suburbanisierung“ der Stadtränder ist daher als Teil der Urbanisierung des gesamten Raums zu verstehen. Sie ist wesentlich mit der Entwicklung des MIV verbunden, Verbesserungen müssen den MIV einbeziehen und erfordern deshalb völlig andere Strategien als jene in den „innerstädtischen Gebieten“. Zusätzlich sind zu kleine Bebauungsdichten, monofunktionale Nutzungen und fehlende Straßenräume die großen Herausforderungen, auch geht unbebautes Grünland zur Neige und ist als Bauland zu einem Luxusgut geworden. Trotzdem werden immer noch leichtfertig Wohnbauinvestments auf der grünen Wiese akzeptiert, obwohl Stadtteile in „innerstädtischen Gebieten“ mit bestehender Infrastruktur durch die Nutzung von Brachflächen und Leerstand zur Urbanisierung anstehen.

Die entscheidenden Standortqualitäten von Entwicklungsgebieten sollen künftig nach den Urbanisierungskriterien betrachtet werden:
– Hohe Dichte der Bebauung und Bewohner
– Nutzungsmix von Wohnen, Arbeiten
– Infrastruktur mit öffentlichem Verkehr
– Straßenräume mit geschlossener Bebauung

Diese Kriterien sind in einem komplexen System voneinander abhängig, jedes kann für sich allein ein vitales Stadtleben aber nicht gewährleisten. Urbanität stellt sich nur dann ein, wenn sie gemeinsam wirken. 
Die Entwicklungsgebiete „Reininghaus“ oder „Smart City“ sind sinnvolle Experimente. Durch die starke Trennung (Bahn und Gürtelstraße) von der Kernstadt haben sie aber wegen der fehlenden Nachbarschaft ein gewisses Sandortrisiko. In diesem Kontext ist zu betrachten, ob die Entwicklungsgebiete um das neue Kraftwerk an der Mur wegen der von der Stadt geplanten Freizeitfunktionen nicht höhere Urbanisierungspotenziale aufweisen. Hier liegen Industrie- und Gewerbeflächen mit vorhandener öffentlicher Verkehrsinfrastruktur in besserer Beziehung zu den „innerstädtischen Gebieten“. Mit der Ausweisung als Kerngebiet mit Nutzungsmix und einer ausreichenden Dichteerhöhung sind die Randbedingungen zu einem urbanisierbaren Stadtteil günstiger als im Entwicklungsgebiet West. 
Die zur Diskussion gestellten Konzepte wären mit den Programmen der Stadtentwicklung weitgehend kompatibel. Zusätzlich sind aber die BürgerInnen in einen Diskurs einzubinden und Einzelprojekte im gesamtstädtischen Kontext transparent zu verhandeln.

Mit freundlichen Grüßen
Wolfgang Steinegger

Roland Hartmann

Wie hat der Verfasser doch recht. Graz, die Stadt der international herausragenden Architekten, doch wo ist ihre Präsenz wenn es um die Frage der Stadtentwicklung, Stadterweiterung geht? Danke für diesen Offenen Brief.

Di. 16/01/2018 2:18 Permalink
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