steirischer herbst 2014: Grace Ellen Barkey / Jan Lauwers / Needcompany: All Tomorrow's Parties I+II
©: Wolf Silveri
steirischer herbst 2014: Die Transmissionare: Nein, ich will! Eine Hochzeit für alle
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Abgerechnet wird zum Schluss. Da holt die gesellschaftliche Leistungsrationalität die alternative Utopie des Festivals steirischer herbst wieder ein. Die Strecke beläuft sich dieses Jahr auf 527 Einzelveranstaltungen in 24 Tagen mit über 1.000 Künstlern und Theoretikern und mehr als 50.000 Besuchern.
War es ein guter herbst und was hat ihn dazu gemacht? Ein Besucherrekord? Hervorragende Produktionen? Eine punktgenaue Abrechnung? Ein Skandal? Ein geniales bzw. genial umgesetztes Leitmotiv?
Intendantin Kaup-Hasler eröffnete vor dreieinhalb Wochen in der Listhalle mit einem mittelschweren, intellektuellen Missbrauch. Wie sonst könnte man die Inanspruchnahme von Bartlebys enigmatischen Ausspruch in ihrer rundum anschlussfähigen Rede (... für Teilen, aber auch wieder nicht, für Energiesparen aber auch Autofahren...usw) nennen? Der Schreiber Bartleby ist nicht nur die rätselhafteste Gestalt Hermann Melvilles, sein Ich möchte lieber nicht stellt auch die konsquenteste, die selbstzerstörerischste Verweigerung dar, die sich denken lässt.
GRACE LEN BARKEY/JAN LAUWERS/ NEEDCOMPANY, All Tomorrows Parties I + II. Jan Lauwers, der Chef der Truppe sagt in seinem Interview für Theorie zur Praxis, dem Zentralorgan des herbstes für orientierungslose Besucher, kulturpolitisch nur Kluges. In der Listhalle sollte eine programmatische Aufführung stattfinden, extra für Graz und speziell auf das Motto I prefer not to...share zugeschnitten. Armes Graz. Leider ging das Konzept eines vazierernden Publikums, das sich Essen und Theater gleichzeitig teilt, nicht auf. Wer einen Sitzplatz gefunden hatte, dem war bald der Blick verstellt. Zu sehen bot die zweifellos virtuose Truppe vor allem endlose Umzüge, Tänze, und - zugegeben - appetitliche Einblicke unter die kurzen Röcke der Tänzerinnen. Und die übermäßig strapazierte Figur des Clowns ist im Showbusiness von ähnlich gefährlicher Sentimentaliltät wie Träume in der Literatur. Ein weniger abgehärteter Gast aus Nigeria sagte: "Jetzt weiß ich was Avantgarde ist - weiße, ältere Spielmacher, bei denen selbst Lou Reed am Ende nach Country & Western klingt."
Aber Eröffnungen, ob gelungen oder misslungen, sind noch nicht der ganze herbst. Und wie jeder weiß, lässt sich praktisch jede Veranstaltung unter den fadenscheinigen Schirm eines Mottos argumentieren. Wie war er also, der herbst? Ein Gesamtbild kann bei den hunderten, bis in die Provinz streuenden, ungeheuer diversifizierten Produktionen kaum jemand entwickeln - außer, vielleicht, die Intendantin. Theater, Film- oder Literaturkritik werden solcher Überangebote mit dem analytischen Instrument der Bestenlisten Herr; hier also ein entsprechender Versuch für das Festival. Und wie im steirischen herbst selbst muss man auch bei diesem Rückblick nicht alles konsumieren.
SHORTLIST
MARIA HASSABI, Premiere. Entschleunigung pur. Fünf Personen liegen bzw. stehen schweigend im Dom im Berg zwischen zwei enormen Scheinwerferbatterien während das Publikium an ihnen vorbei zu den Stuhlreihen geht. Und so bleibt das auch während der nächste Stunde, nichts ist zu hören, außer einem gelegentlichen Knacken der Scheinwerfer und dem Quietschen von Haut auf dem Boden. Die unmerkliche Bewegungen der Tänzer mit Zeitlupe zu beschreiben, würde den Eindruck viel zu hoher Geschwindigkeit erzeugen. Verfolgt hat man eher das Wachstum von Tropfsteinen und trotzdem begreift man in der Arbeit der aus Zypern stammenden Künsterin, wieviel übersehen wird. Bei etwas Mut für die Eröffnung sehr viel passender als All Tomorrows Party.
ARPAD SCHILLING, The Party is over - but we keep on going!. Schlechte Zeiten provozieren gute Kunst. Also fördert Victor Orban den auch international hoch dekorierten ungarischen Theatermacher Arpad Schilling gerade, indem er ihm die Subventionen kürzt und auch sonst drangsaliert? In seinem Kampf um Selbstbehauptung greifen der Theatermacher und seine Gruppe Kretakör zu agressiver Selbstbeschädigung und agressivem Ficksprech, um die Gewalt, die ihnen angetan wird, deutlich zu machen. Am Anfang zieht sich Arpad Schilling gleich einmal nackt aus, am Ende, nach vielen irrwitzigen, brecht`schen Szenen, liegt er in Windeln, mit einem Plastiksack über dem Kopf pflegebedürftig auf der Couch. Dazwischen lässt Schilling ständig die Rahmen(bedingungen) von politischer und Theaterrealität ineinander laufen und nimmt Mitläufer - Künstler und andere - virtuos auf`s Korn. Für dezenten Geschmack ist da kein Raum, einige Zuseher vertrieb der hoch artistische Wutausbruch auch aus der Gleichenberg-Halle. War dieser große, wütende Abend in der Provinz verschenkt, oder gehörte er grade dorthin?
YOUNG JEAN LEE, Straight White Man im Orpheum: eine etwas andere Sitcom in drei Akten über das schwere Leben der amerikanischen, weißen, männlichen Mittelklasse. Sinnsuche auf so lockerem wie hohem Nieveau. Für Geschwister, die ihre fröhliche, grausame Zuneigung wiedererkennen; toll getimt, toll gespielt, Pflicht für die Mimen des Schauspielhauses. Nicht unbedingt Avantgarde, aber was soll`s.
LONGLIST
BORISD CHARMATZ, manger. Der Kaumuskel als Tanzmuskel, eine ganze Tanzkompagnie beim Verzehr von Oblaten in DIN A Format. Während des Kauens in der Listhalle entwickelten sich anschwellende, manchmal sehr schöne Gesänge, die dann in selbstvergessener Konzentration der Protagonisten auf sich selbst münden. Gelegentlich wird auch versucht, den Nebenmann mit zu vernaschen, nur reichen Lust oder Appetit nie zu einem ordentlichen Happen. Ein wunderbarer, eleganter Abend mit wunderbar sympathischen Tänzern, dem aber dann doch das Mitreißende fehlte: Wegen der etwas kräftigen Symbolik? Wegen des monotonen Timings? Wegen des Verzichts die durchaus gegebenen Solo-Performances gegen das Kollektiv auszustellen?
BAROCKTHEGREAT, Victory Smoke. Die unheimliche Reduktion, die die italienische Formation bot, war derart dicht, dass sich die Frage nach irgendwelchen Bedeutungen gar nicht stellte. Erst ist der Bühnenboden von einem schwarzen Fünfeck dominiert, über dessen Ränder die Silhouetten der schwarzgekleideten Tänzer ragen. Zwei Musiker sind in der Diagonale positioniert, der eine sondert Gitarrenriffs ab, der andere werkt an der Drummachine. Dazwischen entwickelt sich ein geheimnisvoller Tanz in reiner Monochromie. Erst am Ende vollzieht ein Tänzer allein magische Schritte in einem Oval aus grünem Licht... und das ist auch schon das Ende dieses düster-dynamischen, archaisch-technoiden Tanzwirbels.
GUNILLA HELBORN, Gorkij Park 2: Eine Theaterarbeit, die sich, ausgehend von Michael Apteds Film Gorkij Park (1983) in sehr freier Assoziation mit dem russischen Revolutionsdichter, dem nach ihm genannten Park, seinem Museum, aber auch mit russsicher Folklore, mit Verrat und Tod, dem Luftfahrer Kapitän Andres und dem Diktator Stalin beschäftigt. Die Musikalität, der Sound der Aufführung war außerordentlich, die Scherze schwebend-absurd, das Spiel nonchalant. Nur bringen es dekonstruktivistische Inszenierungen, sofern sie nicht mit Überwältigung durch Effekte arbeiten, mit sich, dass sie bald ins Nirgendwo führen.
NATURE THEATRE OF OKLAHOMA, LIfe and Times - Episodes 4,5, - 5 – 6 im Mumuth. Die immer unterschiedlichen Inszenierungen der genre- und werküberschreitenden Gruppe nehmen transkribierte Telefonate ihrer Mitgllieder zum Ausgangspunkt. Und wenn, wie für Nr. 6 der Mitschnitt fehlgeschlagen ist, dann tritt die freie Erfindung an Stelle der Biografie. Eine zusätzliche Besonderheit besteht darin, sich stets einer neuen Form zu bedienen. Nr. 4,5 bestand aus dem großflächig gezeichneten Trickfilm der Protagonistin aus der Zeit ihrer Adoleszenz inclusive Hauskatze, Bruder, Vater, etc. Die klaren Bilder unterlegt von einer Gesangsstimme evozierten eine unaufgeregte, tiefe Traurigkeit über eine nur vermeintlich idyllische Jugend. In 5 gab`s 45 Minuten dann kollektive Pflichtlektüre eines mittelalterlich wirkenden Pornocomic zu E-Pianokrach. Das Lichtdesign für den Pianisten war hervorragend, die Einschulung der Heldin in`s Sexualleben per Comic cool... aber, hey! Spezialisten können das noch besser. In Nr. 6 schließlich, der Teil, für den das Originalmaterial fehlte, argumentierte die Truppe absurd über Sinn von Leben & Kunst. Worum ging`s bei dem Aufwand zuvor?
ANN LIV YOUNG, Elektra. Tiere und Kinder sind im Showgeschäft nicht zu schlagen. In Ann Liv Youngs sehr, sehr freier Version der Elektra war der Star eindeutig ein Schweinchen, das im Sand der Rundbühne schnüffelte und sich ansonsten möglichst weigerte, aufgehoben zu werden. Ansonsten gab es allerlei trashigen Mythos, drei Tänzerinnen, ein goldenes Schwert, einen goldenen Zweig (Frazer, The Golden Bough?), einen absichtlich misslingenden Balanceakt auf einem Thron und eine doppelte Elektra. Orest kommt erst, nachdem der zum Krautkopf mutierte Agamemnon zermanscht bist. Irgendwann sind alle schön nackt und im Dunkel ertönt ein schauerlicher Schrei: Licht, eine Nackte klammert kopfüber an den Oberschenkeln Orests, der hält, assistiert vom alter Ego Elektras, ein abgeschlagenes Haupt – wessen? es ist nicht der Krautkopf – am ausgestreckten Arm. Das Publikum weiß lange nicht, dass es applaudieren soll, und dem jungen Mann wird der Kopf langsam zu schwer. Überraschend kurzweiliger Abend gemessen an der üblichen monomanschen Selbstüberhöhung der Regisseuse… Schwein gehabt.
LUNDAHL & SEITL haben es mit An Elegy to the Medium of Film in den Wettbewerb geschafft. Auch in diese hochgelobte, leicht überschätzte Installation findet nur jeweils eine kleine Gruppe Einlass. In der dunklen Ebene 3 des Schauspielhauses erinnern die 3-D Bilder eines nördlichen Mischwaldes an das Panorama in den Fünfzigerjahren in Graz. Nur waren die beleuchteten, im Kreis rotierenden Schaukästen stumm; hier wird eine melodische Stimme nicht aufhören über das Drinnen und Draußen in Bildern und die ultimative Wahrnehmung im Kino zu referieren. Möglicherweise schlau, aber wie soll man das in der Geschwindigkeit mitkriegen? Irgendwann gibt`s viel schlechtere Bilder von Breughelbildern aus dem Wiener Kunsthistorischen Museum, außerdem eine kurze Anleihe (oder vielleicht sogar Leihe?) aus Lech Majewski`s Film The Mill and the Cross. Schließlich wird`s stockdunkel und im besten Teil der Installation wird der seiner Gewissheiten beraubte Besucher an beiden Händen im Kreis gedreht, umhergeführt und angehalten, Körperempfindungen wie Fliegen zu imaginieren. Nicht übel, eine effektvolle Geisterbahn ohne Gespenster.
JÖRG ALBRECHT/ GERHILD STEINBUCH, You`re not the same. Der Plot zielt auf eine Neuverfimung, für das Casting sind ausschließlich Frauen vorgesehen, es geht aber auch um die systemstablisierende Funktion des mythischen Helden und nicht zuletzt um sehr persönliche Hommagen an ihn. Jedenfalls das Beste, was die beiden bisher im Heimatsaal gezeihgt haben. Das Duo überträgt für seine literarische Collage das Karaokeprinzip vom Singen gleich auf das Showbusiness insgesamt; die beiden arbeiten mit Tanzschritten, Gesang und Entertainerposen ohne etwas davon wirklich zu beherrschen, alles eingebettet in eine schnelle Lichtregie. Das Ergebnis ist erfreulich unpretentiös, die Texte interessant: Ausbaufähig.
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Infobox
Der steirische herbst 2014 stand unter dem Motto I prefer not to ... share! Ich ziehe es vor, nicht zu teilen. Wenn der steirische herbst mit seinem Leitmotiv Anleihen an Herman Melvilles Verweigerer Bartleby nimmt, dann weil wir zerrissen sind – zwischen dem Wissen, dass wir mehr teilen und gleichzeitig auf mehr verzichten müssen, wenn wir das Auseinanderdriften der Reichsten und Ärmsten auf diesem Planeten stoppen wollen. (Zitat aus dem Programm)
Wilhelm Hengstler teilt mit GATleserInnen seine persönlichen Eindrücke.