18/03/2019

Lendviertel – und wie weiter?

Eine Stadtwanderung von Karin Tschavgova durch den Grazer Bezirk Lend.

Der Artikel erschien am 23.02.2019 im SPECTRUM der Tageszeitung Die Presse. Er wurde für eine Veröffentlichung auf GAT von der Autorin dankenswerterweise zur Verfügung gestellt.

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18/03/2019

Vielgesichtigkeit als Charakteristikum des rechten Murufers. Lendviertel, Graz.

©: paul ott photografiert

Lange war er als Rotlichtviertel und Substandard-Lebensraum verschrien: der Grazer Bezirk Lend. Mittlerweile ist der Wandel nicht mehr zu übersehen. Ob die Erfolgsgeschichte nördlich des Lendplatzes weitergehen wird, entscheidet sich jetzt. Eine Stadtwanderung.

Wenn Narrative über die Entwicklung von Stadtquartieren als touristische Attraktion vereinnahmt werden, so ruft das Skepsis hervor.
Gemeinhin wird der Beginn des Aufschwungs im Grazer Lendviertel am Kulturhauptstadtjahr 2003 und der zeitgleichen Eröffnung des Kunsthauses, das genau an der Grenzlinie zwischen den Bezirken Lend und Gries liegt, festgemacht. Als ehemalige Handwerksquartiere am rechten Murufer, in die über lange Zeit nichts mehr investiert wurde, fristeten beide ein eher tristes Dasein. Gleich hinter der repräsentativen Gründerzeitbebauung am Kai hatte sich eine Nachtclub- und Rotlichtszene etabliert, und freiwerdender Substandard-Wohnraum war vor der Jahrtausendwende fast nur mehr an Migranten vermietbar.
2003 war zweifellos der wichtigste Impulsgeber für die Transformation des Umfelds um den Südtiroler Platz. Im Rücken des Kunsthauses, in der Mariahilferstraße, wurde diese Veränderung schneller sichtbar. Dort standen mehrere Häuser zum Verkauf, wurden saniert, und in die freien Geschäftslokale zogen Mutige aus der Kreativszene und Sozialvereine wie „Tagwerk“ ein. Dass sie von der Stadt eigens unterstützt wurden, um die Mieten für ihre Ladenlokale aufbringen zu können, ist eine der Legenden über den Aufschwung des Lendviertels.
Der Wandel begann schon 1999 mit der gelungenen Neugestaltung des Lendplatzes durch Norbert Müller im Rahmen der Initiative „Platz für Menschen“ des jung verstorbenen Grazer Vizebürgermeisters Erich Edegger. Der dortige Bauernmarkt wurde zum beliebten Treffpunkt, die neu entstandenen türkischen Läden trugen zur Attraktivierung bei. Die aktive nachbarschaftliche Aneignung des öffentlichen Raums als Stadtraum, der nicht in erster Linie kommerziellen Interessen vorbehalten ist, ist das Anliegen des „Lendwirbels“, der heuer zum elften Mal im Frühling stattfindet. Seine Initiatoren und sozialen Netzwerker tragen heute mehr zur gedeihlichen Entwicklung des Lendviertels bei als die Stadtplanung - ja, sie bilden mit ihren Anliegen für eine entscheidungsoffene Mitgestaltung des eigenen Lebensraums eine kritische Instanz gegenüber Tendenzen, ihr Viertel als Teil der „City of Design“ für den Tourismus und die sogenannte Kreativwirtschaft zu vermarkten.
Immobilienentwickler, die auf eine Aufwertung des Viertels durch höchste Qualität setzen, sind rar. Megaron, hinter der die Grazer Gruppe Pentaplan in Personalunion als Architekten und Bauträger stehen, ist einer. Sie haben risikoreich auf die steigende Attraktivität des Lendviertels gesetzt und waren mit einem markanten urbanen Gebäude mit gemischter Geschäfts-, Büro- und Wohnnutzung im Jahr 2000 Impulsgeber. Zwei Jahre lang konnten sie nichts verkaufen, doch ihr Gespür für Orte und Entwicklungen mit Lebensqualität machte das Unterfangen letztlich zum Gewinn. 2004 ersteigerten sie eine Immobilie am Platz und planten mit einer Förderung zur Schaffung von Wohnraum durch umfassende Sanierung anhaltend nachgefragte Mietwohnungen. Der preisgekrönte „Goldenen Engel“ führt das Urbane des Platzes mit einer repräsentativen Stadtfassade und mit öffentlich zugänglichen Flächen im Erdgeschoß fort und ist ein gutes Beispiel für die sozialverträgliche Transformation des Bezirks, der zwischen 2006 und 2011 zum am schnellsten wachsenden der Stadt wurde. Das Wohnen am rechten Murufer wurde für die Jungen attraktiv. Alteingesessene, Migranten und Studenten prägen das Stadtbild in einem lebendigen Nebeneinander.
In der öffentlichen Wahrnehmung endet dies auch heute noch mit dem Lendplatz. Das vorstädtisch klein geprägte Gewerbe- und Wohngebiet nördlich des Platzes um die Wienerstraße bis zum Kalvariengürtel bleibt noch ausgeblendet, obwohl sich dorthin – naturgemäß – bereits die Begehrlichkeiten von Immobilienentwicklern verlagert haben.
Dazu der Versuch einer Charakteristik des Vorgefundenen: Der große Player AVL, ein international tätiger Motoren- und Prüfsystementwickler, besetzt mit einem stetig wachsendem Konglomerat aus Büro- und Forschungsbauten und einer massigen Hochgarage ein großes Areal am Beginn der Wienerstraße - introvertiert, abgeschlossen und unter Privatisierung einer ehemals durchs Firmenareal führenden Straße. Das Gebiet östlich der Wienerstraße hingegen, entlang von drei parallel geführten Nordsüd-Verbindungen, ist stark durchmischt. Mehrgeschoßige Wohnbauten, denen man ablesen kann, dass sie an der Stelle von früheren Einfamilienhäusern und Gewerbebetrieben sitzen, wechseln sich ab mit kleinen Vorstadthäusern in großen Obstgärten. Eingeschoßige, teils winzige hundertjährige Wohnhäuser stehen neben neuen Wohnblöcken, die ihre Areale bis auf ein Maximum der erlaubten Bebauungsdichte im Kerngebiet bebaut haben. Das treibt kuriose, teils gar nicht stadtverträgliche Blüten. Ein Beispiel? Austritte oder kleine Terrassen von Wohnungen im Erdgeschoß hart bis an den Gehsteigrand, abgetrennt von diesem durch eine mauerdichte Umzäunung. Auf der Strecke bleibt bei all den neuen, linear aneinander gereihten Bauten die Durchlässigkeit in die Tiefe der Grundstücke, die das Quartier teilweise noch auszeichnet.
Zwei neue Bauten stechen wohltuend hervor. Es ist dies der neueste Coup von Pentaplan - die 2018 mit dem Bauherrenpreis ausgezeichnete „Prinzessin Veranda“. Das Wohngebäude ist ebenso als herausragender urbaner Solitär in einen Zwickel zwischen zwei Straßen gesetzt wie das Hotel Lend, das Nicole Lam ins ehemalige Niemandsland neben Bordell und Hochgarage gesetzt hat.
Gebaut wird hier bald an allen Ecken und Enden. Für das nächste große Investment, kolportierte 300 Wohnungen in einem noch gewerblich genutzten Areal am Beginn der Wienerstraße, hat die Stadt einen Bebauungsplan erstellt. Dieser könnte überall im Stadtgebiet umgesetzt werden, die vorgesehene geschlossene Blockrandbebauung
nimmt leider keine der jetzt noch vorhandenen raumbildenden Merkmale des Stadtteils auf - weder Öffnungen und Durchblicke in die Grundstückstiefe, auch nicht auf den verkehrsberuhigten Seitenstraßen, und auch keine Wegeführung durch das Areal.
Genau dies aber macht für den aufmerksamen Stadtwanderer den Charme der noch rudimentär vorhandenen alten Vorstadt zwischen Lendkai und Wiener Straße aus. Dass das Alte, Kleinteilige, diese wilde Mischung aus Kleingewerbe, Kleinvilla mit Obstgarten und Vorstadthaus mit großem Hinterhof zwischen wenigen Siedlungsbauten bald Vergangenheit sein wird, ist eine Realität. Zu groß sind die Begehrlichkeiten für das zentrumsnahe, gut erschlossene Quartier. Stadtverdichtung als Devise ist in einer Stadt der kurzen, fußläufigen Wege nicht falsch. Doch Halt! Einiges an den liebenswerten Besonderheiten könnte als Grundwerte in die Transformation des Gebiets aufgenommen werden. Die großen, nur mit Stichstraßen erschlossenen Flächen geben es vor – Durchblicke und bis weit in tiefe, schmale Grundstücke hineinführende Wege, die aufgenommen, öffentlich gemacht und weitergeführt werden könnten, ohne die obligaten Einzäunungen. Stadt ist nun einmal eine dichte Gemengelage aus öffentlichen, halböffentlichen und privaten Interessen.
Für das Lendviertel gilt: seine Heterogenität ist eine feinkörnige Durchmischung, seine Vielfalt eine Ressource und ein Schatz, der nicht durch 08/15-Neuplanung zerstört werden darf.

Laukhardt

Vor genau zwanzige Jahren: Prof. Max Mayr und ich konnten den damaligen Finanzstadtrat Mag. Nagl davon überzeugen, für das neue Kunsthaus das Areal beim Eiserne Haus zu wählen – als Ersatz für den nach Volksbefragung zum Glück verhinderten Standort im Schloßberg. Wir versprachen uns dadurch zunächst eine Aufwertung des herabgekommene Rotlicht-Viertels. Der damalige Parkplatz von Kastner & Öhler – ein Schandfleck der Stadt – war 1973 durch Abbruch eines Hauses aus dem 16. Jh. entstanden, den das Kaufhaus gegen das Denkmalamt und gegen die flammenden Proteste von „Rettet die Grazer Altstadt“ durchgesetzt hatte – gerade noch rechtzeitig vor Inkrafttreten des Grazer Altstadt-Gesetzes 1974. Alte Fotos zeigen noch den schönen, von Konsolen getragenen Erker an der damals noch verkehrsumspülten Kreuzung Kosakengasse –Mariahilferstraße. Grundlage für diese Entscheidung war die Studie des leider schon 2016 verstorbenen Stadtrates a. D. und Architekten Klaus Gartler gewesen, der diesen Standort ebenfalls favorisiert hatte. Der zweite Beweggrund für die Wahl des Platzes war die damit zu verbindende Rettung und Sanierung des „Eisernen Hauses“, der 1848 von Withalm errichteten ersten Gußeisenkonstruktion eines Kaufhauses in Festland-Europa.
Der erwartete Erfolg für das Lendviertel trat ein – so hat nach Bekanntwerden der neuen Pläne das bereits geschlossene Hotel Mariahilf seine Pforten sofort wieder geöffnet. Mich und andere der noch lebenden Mitstreiter der damaligen Bürgerinitiative gegen das KH im Schloßberg macht das heute noch stolz, weil es zeigte, dass man Bürger in Fragen der Stadtentwicklung durchaus mitreden lassen könnte.
Weniger erfolgreich war hier der Altstadtschutz (ich selbst war Altstadt-Sachverständiger der ASVK von 2000 bis 2005), denn viele der Altbauten um den Lendplatz wurden einfach abgerissen – und der Prozess ist leider noch längst nicht zu Ende: die klaffende Lücke an der Einmündung der Fellingergasse lässt ahnen, was dort noch kommt. Auch zwei historischen Gülthöfen in der Josefigasse wird wohl bald der Garaus gemacht werden. Heute erinnert sich auch niemand mehr an das legendäre Gasthaus "Zum weißen Rössl". Wer sich aber fragt, woher denn das „Flair“ des Platzes herstammt, braucht nur die Fassaden zu vergleichen. Hier noch wechselvolle Bausubstanz vergangener Jahrhunderte, das Marktgetriebe um die Pestsäule – dort ein zufälliges Nebeneinander gestaltloser Bauten; künstlich aufgesetzte Blenden aus massengefertigtem Kunststoff oder bunte Würfel werden den Geschmacksverlust sicher nicht ausgleichen. Zwei restaurierte Bauten an der Nordwestseite des Platzes zeigen: es hätte auch anders gehen können!
Keineswegs überzeugen können mich die nun in das ehemalige „grüne“, bis vor einigen Jahren noch von Gärtnereibetrieben (!) definierte Land-Lend ausgreifenden riesigen Betonklötze, die vereinzelte denkmalgeschützte Altbauten regelrecht erdrücken; ein kleine Schmiede mit ihrer Esse in der Lücke zu erhalten, war wohl wirtschaftlich nicht darzustellen. Zu sehr leide ich auch an der geschmacklichen Verwahrlosung um die verwaist dastehende Pestsäule Ecke Am Damm – Wiener Straße. Hier hat eine international erfolgreichen Unternehmung die alten Vorstadt-Strukturen durch teilweise containerartige Bürobauten brutal verdrängt. Hallo, Stadtplanung: hätte das nicht besser in die Waagner-Biró-Straße gepasst? Ich frage mich daher manchmal: hätte man das Kunsthaus doch lieber im Berg verstecken sollen?

Di. 19/03/2019 2:32 Permalink
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