09/01/2012
09/01/2012

01: Horizontal erstreckt sich das Sandrohr, begleitet durch ein gestrandetes Fischerboot, vor der Silhouette von Phnom Penh

02: Zweidimensionaler Abdruck des gesuchten Lakeside Hotels

03: Tuk-Tuk-Fahrer bei der Arbeit

4

5

6

07: Nachbarschaftliches Miteinander

08: 8.000 Dollar und 200.000 Riel

9

10. Alle Fotos: Daniela Mitterberger, Lukas Vejnik.

Als wir Phnom Penh von Siem Reap aus erreichen, empfängt uns die raue, 2 Millionen Einwohner zählende Großstadt von Kambodscha mit dichtem Smog. An den breiten Straßen wartende Tuk-Tuk-Fahrer winken uns kurz als potenzielle Kunden heran. Zu Fuß und mit Reiserucksäcken beladen, weichen wir mit Mühe den schweren Motorrädern, die uns beidseitig entgegenkommen, aus.

In der Stadt von Phnom Penh, unweit des Zentrums, liegt ein See. Umrundet von kleinen Fischerhütten und Hotelanlagen verleiht er dem Wort „Nahversorgung“ seine wahre Bedeutung. Kühlend und beruhigend ist das Gewässer ein Ruhepol in der ansonsten kargen, umbarmherzigen Realität des kambodschanischen Alltags - die unumgänglich und unübersehbar verwoben ist mit der Vergangenheit der Roten Khmer - ein Stück Natur, das den Bewohnern ein Entfliehen vom rauen Atem der Stadt ermöglicht.

Wir folgen den Straßenzügen, vorbei am Regierungssitz im Stil eines chinesischen Verwaltungsgebäudes und passieren den stillgelegten Kopfbahnhof der kambodschanischen Eisenbahngesellschaft. An den Straßenrändern mehren sich die wartenden Tuk-Tuk-Fahrer und mischen sich zunehmend mit Essensständen, die ebenfalls die Straßen säumen. Je näher wir dem See kommen, desto zahlreicher werden sie.
Wir finden ein weiß gestrichenes Gitter und allmählich wird die Gegend rauer und leerer. Die Häuser sind dem Verfall preisgegeben oder werden sogar beschädigt, um den Verfallprozess zu beschleunigen. Durch ein Gitter blicken wir auf den mit Sand gefüllten Vorplatz einer Moschee und der letzte Versuch eines Fahrers, uns zum Lakeside zu bringen, wird von uns dankend abgelehnt.

Als wir an unserer bevorzugten Unterkunft ankommen, müssen wir mit Verwunderung feststellen, dass diese Adresse seit einiger Zeit keine Gäste mehr beherbergt. Die Grundrisse des Gebäudes lassen sich noch am Boden ablesen: die Eingangshalle, die Toiletten, der Stiegenaufgang. Das Hotel sei schon vor einem Jahr abgerissen worden, berichtet uns ein Passant. Von den übriggebliebenen Hotels trägt nur noch eines den Beinamen Lake View. Wir suchen uns ein Zimmer im Nebengebäude und vom Dach unserer Herberge erkennen wir erstmals, was gerade mit dem See geschieht. Unsere Blicke schweifen über eine Sandwüste, die an ihrem unteren Rand einen schmalen Streifen Wasser übriglässt. Kinder spielen im Schlamm und einige verzweifelte Fischer versuchen, ihre Ruderboote in der Wasserpfütze zu navigieren. Wir sind nicht die einzigen Beobachter. Hotelbesitzer und Fischer stehen später mit uns am letzten Stück Ufer und verfolgen erstaunt, wie Rohre tonnenweise Sand in den See pumpen. Sie sind auch diejenigen, die uns zum ersten Mal von der jüngsten Vergangenheit des Boeung Kak Sees erzählen: 2008 seien Regierungsvertreter im Viertel erschienen und hätten die Bewohner darüber informiert, dass der See Teil eines großangelegten Stadtentwicklungsprojektes werden solle. Bald darauf erschienen Baumaschinen und Sand wurde in den See gepumpt. Durch die Verdrängung der Wassermassen wurden die improvisierten Behausungen der Fischer überflutet. Ohne vertragliche Wohnberechtigung blieb ihnen nichts anderes übrig als umzuziehen. Hotel- und Hausbesitzer wurden in zweiter Instanz mit Ausgleichszahlungen abgegolten, um auch diese Zone freizuspielen.

Hauptakteur in diesem Stück ist ein korrupter kambodschanischer Politiker, der mit einer chinesischen Firma kooperiert, deren Teilhaber er gleichzeitig ist. Nach kambodschanischem Recht ist das Gebiet des Boeung Kak Allgemeingut und darf nicht verkauft werden, deshalb gab es für die jetzt agierende Firma auch nur einen Leasingvertrag auf 99 Jahre. Doch auch bei Leasingverträgen ist es ungesetzlich, den Gemeinschaftswert eines öffentlichen Grundstücks zu mindern.

Ein schnell gefertigtes Schaubild zeigt die Zukunftsvisionen: Einige willkürlich verteilte Volumina auf der Ebene stellen Hochhaustürme dar, die ein neues Bankerviertel formen sollen. In der Mitte soll ein kleiner Brunnen den ehemals öffentlichen See ersetzen. Das Szenario wird umringt von Wohnsiedlungen, wie man sie aus chinesischen Immobilienprojekten der letzten Jahre nur zu gut kennt. Weitere Pläne gibt es nicht, keine wirklichen Nutzungsideen, keinen präzisen Bebauungsplan.

Was nach 99 Jahren mit dem Sand passiert, weiß niemand, ebenso wenig kennt man die genaue Lage der Grenzlinie zwischen dem neuen Entwicklungsgebiet und dem existierenden Wohngebiet. Wenn sich die Anwohner weigern, ihren Besitz abzugeben, wird eben dessen Preis sinken, so tief, bis sie sich keine anderen Wohnungen in Phnom Penh mehr leisten können. Mit Ton schreiben uns unsere Nachbarn ihre Ablösesumme auf die restlichen Kacheln ihres Vorgartens: 8000 $ und 200.000 Riel. Sie haben beschlossen zu bleiben, da sie für diesen Preis nirgends mehr eine Wohnung für sich und die Familie bekommen können. Auch unser Hotelbesitzer wird bleiben, er malt gerade neu aus, renoviert und muss zugleich erkennen, dass die zurzeit hier verweilenden sieben Gäste das fünf Stockwerke zählende Gebäude nicht erhalten können.

Abends spielt ein Tuk-Tuk-Fahrer auf seiner Gitarre. Hysterische Geschäftigkeit mischt sich mit melancholischer Gleichgültigkeit. Die einzelnen Barhocker stehen wie fehlplatzierte Artefakte an einem Ort, der keine Zukunft hat. Die Gegenwart zeigt vorerst nur eine künstliche Sandwüste.
DANIELA MITTERBERGER (* 1988 in Graz) absolvierte 2011 ihren Bachelor of Architecture an der Akademie der bildenden Künste Wien. Im Sommersemster 2011 studierte sie an der Hongkong University und brach dann zu einer mehrmonatigen Reise durch Asien auf, die bis Oktober 2011 andauerte. Im Juli erschien auf www.gat.st ihr erster Reisebericht über "Die Dachdörfer in Tai Kok Tsui/ Hongkong", im September "… alle unter einem Dach", ein Bericht über die "Tulous" in der Fujian Provinz Chinas.

LUKAS VEJNIK studiert Architektur und Industrial Design in Wien. Er begleitete Daniela Mitterberger auf dem letzten Teil ihrer Reise durch Asien.

Verfasser/in:
Daniela Mitterberger, Lukas Vejnik; Bericht
Netzwerktreffen
16. + 17.11.2023
 
GAT+