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Bericht
Kompetenzorientierung
einige Überlegungen zu Trends in der Curriculumentwicklung

Abschließend möchte ich statt etwaige Differenzen in den Blick zu nehmen, die Schnittpunkte herausarbeiten, die sich aus pädagogischer Sicht in der Zusammenschau aktueller Erkenntnisse über gelingende Lernprozesse ergänzen, um aufzuzeigen, wieviel mehr Facetten zu beachten sind als ein bloßes Abstellen auf die Messung von Lernergebnissen, wie es sich durch ein reduziertes Verständnis von Kompetenzorientierung aufdrängen könnte: 
Zunächst ist die Bedeutung des Vorwissens bzw. der Vorerfahrung, die Lernende mitbringen, anzuerkennen und als wesentliches Moment im Lernprozess zu würdigen. Mitgebrachtes Wissen und vorhandene Erfahrungen – auch wenn es sich um Missverständnisse handelt – sichtbar und erlebbar  zu machen, ist als bedeutsame Anregung von sinnhaltigen Lernprozessen zu nennen. Eine strukturierte Begleitung des Lernens („scaffolding“ im Begriff der Learning Sciences) ist dabei ebenso relevant wie das Ermöglichen von zunehmend eigenständiger Erkundung. Auch wäre zu beachten, dass dosierte Diskrepanzerlebnisse (in Piagets Begrifflichkeit), lernanregende Wirkung haben. Die Anfänge des Lernens (den „fruchtbaren Moment“) im Blick zu halten  und z.B. Fragen der Lernenden proaktiv aufzugreifen und in diesem Zusammenhang Fehlern als konstitutive Momente im Lernprozess verstärkte Aufmerksamkeit zu schenken, ist ein weiterer für fruchtbare Momente im Lernprozess sorgender Aspekt.
Schließlich gälte es, Lerngründe anzubieten, um subjektiv motiviertes Lernen zu fördern. Ebenso wären die reflexiven und evaluativen Momente des Lernprozesses zur Geltung zu bringen (z.B. durch begleitende Selbstevaluierung und Beratung), um Bildungsprozesse (als „aktive Selbstveränderung“) zu initiieren.
Die Frage nach dem Lernen als Prozess und als Erfahrung ist demnach ausgerichtet  am Erwerb von Erkenntnis und Verstehen, aufbauend auf Vorwissen und Vorerfahrung, daran, (expansive) Lerngründe zu initiieren, Interesse und Neugier zu wecken und reflexive Momente und Momente des Innehaltens zu fördern.
Alles Lernen kann zur Eröffnung einer Bildungserfahrung im Horizont eines gelingenden Lebens werden – muss dies aber nicht.

Die gegenwärtig im Vordergrund stehende Bedeutung von Lernergebnissen vor dem Hintergrund der breit angelegten Kompetenzmessungen – Lernergebnisse und damit erworbene Kompetenzen (im Sinne von Problemlösungsfähigkeiten) von Zeit zu Zeit zu erfassen – ist durchaus relevant, keine Frage. Jedoch habe ich zu zeigen versucht, dass der Fokus auf Lernergebnisse nur eine von vielen Facetten des Lernens darstellt. Ihre aktuelle Sonderstellung im Diskurs um Lernerfolge birgt die Gefahr, dass alle anderen maßgeblichen, das Lernen fördernde Facetten aus dem Blick geraten. Diese Verschiebung von Relevanzen, die im Grunde gegen die neueren Erkenntnisse der Lernforschung vorgenommen wird bzw. in einer holzschnittartig vereinfachten Rezeption von Lernforschung besteht – zeigt sich an der Art und Weise, wie Anleitung zur Planung von kompetenzorientierten Curricula und kompetenzorientiertem Unterricht gegeben wird. So finden sich auf diversen Bildungsservern und Websites der Bildungssysteme der Schweiz, Deutschlands und Österreichs Vorschläge für so genannte Kompetenzraster, die die zu erlernenden Inhalte kleinteilig zerlegen und in Anwendungspakete übersetzen – man spricht, wie eingangs angemerkt, von Operationalisierung. 
Dazu ein konkretes Beispiel eines solchen Kompetenzrasters aus der Kunstpädagogik auf einem Schweizer Bildungsserver (www.schule.sg.ch): 
Vier Kompetenzkategorien werden angegeben: Wahrnehmung, Grundfertigkeiten, Gestaltung und Reflexion. Schon auf den ersten Blick drängt sich die Frage auf, wie zwingend und systematisch diese Einteilung ist. Oder ginge es auch anders? Zur Kategorie Wahrnehmung werden die Unterkategorien Erkennen von Materialien und Werkzeugspuren angeführt; die Grundfertigkeiten sind in die Unterkategorien Werkaufgabe bzw. Vorhaben und Werkzeugkenntnis unterteilt; Gestaltung teilt sich in Funktion und Form; Reflexion hat die (wiederum beliebig wirkenden) Unterkategorien Dokumentation und Qualitätsanspruch. Zu jeder Kategorie und ihren Teilkompetenzen werden drei Niveaustufen angegeben.
Dass diese Form der Operationalisierung vor allem der Überprüfung der Lernergebnisse dient, lässt sich an Beispielen aufzeigen, die in den jeweiligen Kategorien als Teilkompetenzen genannt werden. So heißt es etwa auf der ersten Niveaustufe zum Erkennen von Materialien, dass die Begriffe Holz, Metall, Kunststoffe, Naturmaterialien und Ton richtig zuzuordnen seien. Während diese Niveaustufe noch relativ offen formuliert ist, werden auf der nächsthöheren Stufe schon wesentlich detailliertere Vorgaben gegeben. Man müsse demgemäß, will man diese Niveaustufe positiv erreicht haben aus 10 Materialmustern 6 - 8 Werkstoffe erkennen. In der Kategorie Grundfertigkeiten mit der Unterkategorie Werkzeugkenntnis lautet die Operationalisierung, dass auf der Grundstufe die Werkzeuge und Maschinen [zu] benennen seien. Auf der zweiten Stufe geht es darum, die Werkzeuge und Maschinen richtig einsetzen und die Sicherheitsvorschriften einhalten zu können, während auf der dritten Stufe schließlich die Sicherheitsvorschriften zu begründen seien.

Das angeführte Beispiel macht den Duktus deutlich, wie Kompetenzorientierung im Unterricht bzw. dessen Planung häufig angelegt ist: vorrangig, wenn nicht ausschließlich als Grundlage für das Messen von Kompetenzen und für das Überprüfen erreichter Lernergebnisse. Eine gewisse Pragmatik bei der Bestimmung der Fertigkeiten und eine damit in Verbindung stehende Schlagseite in Richtung Erledigungslernen lässt sich bei einer solchen Zergliederung von Inhalten in messbare Einheiten kaum vermeiden, zumindest ist das Risiko groß, dass der Zug in diese Richtung abfährt. 
Wird der Vollzug bzw. der Prozess des Lernens in den Vordergrund gebracht, so verlieren die genannten Operationalisierungen jedoch an Bedeutung. Dann geht es etwa darum, zu beobachten, welche Fragen die Lernenden stellen, auf welche Irrwege sie sich möglicherweise begeben und welche Fehler dabei unterlaufen, warum Interesse aufflammt oder sich Lernwiderstände zeigen, welche Motive für den Lernprozess sichtbar werden oder an welchen Stellen und warum Lerngründe wieder verloren gehen.
Kompetenzen im Sinn des eingangs diskutierten Kompetenzbegriffs stellen bei dieser näheren Betrachtung nichts anderes als komplexe Kulturtechniken dar, die eine zwar notwendige jedoch nicht hinlängliche Voraussetzung für die Entfaltung von Interesse und der Fähigkeit zu eigenständigem Umgang mit einer Aufgabe darstellen. Der Erwerb von Kompetenzen eröffnet demnach nicht schon per se die Möglichkeit einer Bildungserfahrung. Daraus folgt, dass ein ausschließlich an Kompetenzerwerb und den in diesem Zusammenhang zu messenden Lernergebnissen ausgerichteter Unterricht Gefahr läuft, die eminente Bedeutung der zieloffenen (oft auch Verirrungen und Umwege in Kauf nehmenden) Prozessbegleitung des Lernens als Kernaufgabe des Unterrichtens zu überspielen.
Wie aber kann mit der gegebenen Situation und den bildungspolitisch motivierten Vorgaben umgegangen werden?
Eine Antwort auf die Frage könnte lauten, dass die Lehrerinnen und Lehrer als Vertreter einer Profession und als Expertinnen und Experten ihres Faches aufgerufen sind, offensiv gestaltend einzugreifen. Soll die Identifizierung der erwarteten Ergebnisse auf Basis von Zielvorgaben angegeben werden, so kann man die Frage nach den Kernideen – nach den fundamentalen Ideen, dem Bildungssinn – des Faches stellen und danach fragen, welche Einsichten und welches Wissen über die Welt damit erschlossen werden soll. 
Welche Fragen grundlegend bedeutsam sind und gestellt werden sollen, liegen am Grund des Unterrichtsgegenstands bzw. stellen sich im Alltag, im täglichen Umgang und im Klassengespräch, werfen ihrerseits neue Fragen auf und regen das Nachdenken an. Das Gestalten von Anwendungssituationen, die Schülerinnen und Schüler bewältigen sollen, kann dabei getrost mitgedacht werden, nur stellt dieser Aspekt nicht schon den zu erreichenden Endpunkt im Curriculum und in der Folge in der Unterrichtsplanung dar, sondern ist als eine Zwischenstation auf dem Weg zu Erkenntnis und Verstehen in und durch Unterricht (vgl. Gruschka 2009) zu denken – ein Weg, der nicht bei der Vermittlung von Kompetenzen als Handwerkszeug halt macht, sondern jede Menge bildende Erfahrungen eröffnet. Man kann Kompetenzen auch so deuten und bestimmen, dass sie über sich hinausweisen und nicht nur zur Entfaltung immer leistungsstärkerer Fähigkeiten und Fertigkeiten und zum Nachweis von Lernergebnissen, sondern auch zu  jenen Bildungserfahrungen führen, die in den fundamentalen Ideen eines Gegenstandes aufgehoben sind und darauf warten, entdeckt zu werden.

Literatur:
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Göhlich, M., Wulf, C. & Zirfas, J. (Hrsg.) (2007). Pädagogische Theorien des Lernens. Weinheim und Basel: Beltz Verlag.
Gruschka, A. (2009). Erkenntnis in und durch Unterricht. Wetzlar: Büchse der Pandora.
Hattie, J. (2003). Teachers Make a Difference. Distinguishing Expert Teachers from Novice and Experienced Teacher. http://www.acer.edu.au/documents/RC2003_Hattie_TeachersMakeADifference.pdf [ 7.05.2014] Holzkamp, K. (1995). Lernen, Frankfurt/Main und New York: Campus Verlag.
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Verfasser / in:

Ilse Schrittesser

Datum:

Wed 08/10/2014

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Ilse Schrittesser hat seit März 2014 die Professur für Schulforschung und LehrerInnenbildung am Zentrum für LehrerInnenbildung und der Fakultät für Philosophie und Bildungswissenschaft (Universität Wien) inne. Forschungsschwerpunkte: Schulforschung mit besonderer Berücksichtigung der Lehr- und Lernforschung, Professionalisierungsforschung und Forschung zur LehrerInnenbildung.

Den veröffentlichten Text hielt sie als Vortrag am 24.9.2013 bei der IMST-Tagung in Klagenfurt. 

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