10/01/2020

Entlang feiner Linien

Bettina Landl berichtet vom Projekt WOLKE im Amt für Jugend und Familie in der Kaiserfeldgasse 25 in Graz.

Das 2019 von den beiden Künstlerinnen und Architektinnen Adina Camhy und Coline Robin entwickelte und mithilfe der Kulturanthro- pologInnen Robin Klengel, Markus Waitschacher und Lena Prehal durchgeführte Kunstprojekt basiert auf Dialogen mit Menschen aus dem Umfeld und Netzwerk des Amts.
Das Projekt-Ergebnis ist eine 10 Meter lange Mobile-Installation im Stiegenhaus des Amts und eine Reihe kleinformatiger, thematisch strukturierter Hefte mit Illustrationen und Zitaten aus den Gesprächen, die auf das soziale Leben junger Menschen und Familien in Graz eingehen.

Projektträger
Amt für Jugend und Familie,
und GKP

10/01/2020

WOLKE – ein Netzwerkprojekt der vielen Sichtweisen von Adina Camhy und Coline Robin: das Mobile im Treppenhaus des Amts für Jugend und Familie, Kaiserfeldgasse 25, 8010 Graz

©: Clara Wildberger

Das Mobile stellt Netzwerke als bewegliche Formen dar

©: Clara Wildberger

Detail des Mobile

©: Clara Wildberger

Begleitend zur Installation dokumentieren thematisch gegliederte Hefte die durchgeführten Gespräche ...

©: Foto Fischer

... und geben Einblick in den Alltag und die Unterstützungsstrukturen von Kindern, Jugendlichen und Familien in Graz.

©: Foto Fischer

“To follow the ways in which feminist scholars have
reoriented the concept of care in the past generations
requires an entirely new way of seeing the relationships
among the built environment, nature and humans.
Using care as a critical concept will require a fundamental
reorientation of the disciplines of architecture and urban planning.“
(1)

Ausgehend von der Idee, das Netzwerk rund um das Grazer Amt für Jugend und Familie sichtbar zu machen, begannen Adina F. Camhy und Coline Robin ihr Projekt, das sich um den Begriff WOLKE dreht und um Strukturen des Sorgetragens (Care), zu entwickeln. Der Hauptstandort in der Kaiserfeldgasse 25 wurde neu renoviert und 2019 eröffnet. Es war dieser Anlass, etwas, das die Arbeit des Amts in der Stadt betrifft, eben dort – vor Ort im Stiegenhaus– sichtbar zu machen. „Das Amt für Jugend und Familie initiiert und ermöglicht so viele Aktivitäten in der Stadt, aber vielen ist nicht bewusst, dass diese Dienstleistungen etwas mit dem Amt zu tun haben. Es war unsere Aufgabe, dieses Netzwerk darzustellen.“, erzählt Coline Robin. „Die Aufgabenstellung war, dass etwas im Stiegenhaus der Kaiserfeldgasse 25 sichtbar werden  soll, aber was, das war uns freigestellt. Anfangs war noch nicht klar, was das Ergebnis sein wird, aber uns haben der Luftraum und die Durchblicke im Stiegenhaus sehr gut gefallen. Am Beginn des Prozesses  haben wir versucht die komplexen Strukturen des  Amts zu verstehen.“, ergänzt Adina F. Camhy. 

Seit 2004 wird das Fachkonzept der Sozialraumorientierung in Graz angewandt. Dieses bezeichnet eine konzeptionelle Ausrichtung Sozialer Arbeit, bei der es über die herkömmlichen Einzelfallhilfen hinaus darum geht, Lebenswelten zu gestalten und Verhältnisse zu schaffen, die es Menschen ermöglichen, in schwierigen Lebenslagen besser zurechtzukommen. Ein so ausgerichteter Fachdiskurs wird seit Mitte der 1990er Jahre im Zuge des Programms Soziale Stadt sowie sozialräumlicher Umbauprozesse der kommunalen Jugendhilfe in verschiedenen Städten geführt. Hinzugekommen sind Reformprojekte in der Eingliederungshilfe, die mit Inklusions- und Dezentralisierungskonzepten verbunden werden. Der Wille der Menschen steht unter den bei der Umsetzung zu beachtenden Prinzipien im Vordergrund.

„Wir haben uns entschieden, dass wir unseren Fokus auf den Sozialraum 4, also die Bezirke Gösting, Lend und Eggenberg legen, um unser Vorhaben räumlich zu begrenzen.“, erklärt Adina F. Camhy. „Gemeinsam mit Robin Klengel und Markus Waitschacher haben wir bereits in verschiedenen Projekten Stadträume erforscht, zum Beispiel, wie unterschiedlich ein Platz von verschiedenen Menschen wahrgenommen wird (GRIESPLATZZEICHNEN, 2016). WOLKE ist abstrakter und komplexer, weil uns neben den vielen Einrichtungen und Angeboten rund um das Amt vor allem auch die persönlichen Beziehungen und Unterstützungsstrukturen der Menschen wichtig waren.“

Ausgehend von einem Fragenkatalog wurden rund 50 Gespräche mit Kindern, Jugendlichen, Eltern und MitarbeiterInnen des Amts und der KooperationspartnerInnen geführt (u. a.): Was bedeutet Familie für dich? Welche Orte und Menschen sind für dich im Alltag wichtig? Wo bekommst du Unterstützung? Aber auch: Wen unterstützt du? „Wir haben versucht, die Beziehungsgefüge wechselseitig zu betrachten und dadurch haben sich für uns sehr viele unterschiedliche Sichtweisen eröffnet.“, schildert Adina F. Camhy die Herangehensweise. „Mit der Methode des Mental Mappings war es unseren GesprächspartnerInnen möglich, Dinge, die sie nicht mit Worten ausdrücken können, darzustellen. Das hilft auch beim Nachdenken – dabei, bewusst zu machen, in welche Unterstützungsstrukturen man eingebettet ist. Diese sehr unterschiedlichen Zeichnungen haben wir in unsere Illustrationen für das Mobile einfließen lassen.“

Im Laufe der Gespräche haben sich vier übergreifende Themenfelder herauskristallisiert, mithilfe derer die Künstlerinnen den verschiedenen Zitaten und Zeichnungen einen Rahmen geben konnten: Begleiten und unterstützen, Freiräume, Lernen und weitergeben, Zuhause. Diese sind in Auszügen in den von Camhy und Robin herausgegebenen Heften (vier Themenhefte und ein allgemeines Heft in einem Schuber) enthalten. „Das Spannende waren die vielen Sichtweisen auf einzelne Orte, Angebote und Strukturen. Im Grunde haben wir nicht nur die Netzwerke des Amts erforscht, sondern haben Einblicke in die Stadt- und Gesellschaftsstruktur bekommen.“, erläutert Adina F. Camhy.

Der „Freiraum“ dazwischen ist das, worauf sie sich im Hinblick auf die Installation im Stiegenhaus konzentriert haben. „Es gibt verschiedene Ebenen, wie man dieses Projekt verstehen kann: Einerseits über das Mobile als bewegliche Skulptur; andererseits gibt es die vielen Zitate und Inhalte, die in den Publikationen vermittelt werden. Die Hefte geben einen Einblick in die Strukturen, sind Ausschnitte; etwas Kaleidoskopartiges: Wir haben versucht, etwas sichtbar zu machen, das eigentlich unsichtbar ist – nämlich unterstützende Beziehungen, die man nicht so leicht greifen kann. Deshalb haben wir auch den Begriff WOLKE gewählt, weil er etwas Dynamisches meint, aber auch weil es ein Wort ist, das man leicht verstehen kann. Wir wollten, dass das Projekt trotz der Komplexität möglichst zugänglich ist. Aus diesen Überlegungen heraus hat sich auch die Idee zum Mobile entwickelt: In einem Mobile muss alles in Balance sein, die Elemente stehen zueinander in Beziehung. Im Stiegenhaus überdecken sie einander, weil sie sich aus feinen Linien zusammensetzen. Daraus ergeben sich immer neue Relationen.“

Das Mobile verweist nicht nur auf schöne Geschichten, sondern bildet eine Realität ab, bei der „es ganz stark um Chancengleichheit auf vielen Ebenen geht. Aber auch um gebauten Raum, um Stadt und wie sich all das stetig verändert.“ Es gibt viele verschiedene Formen der Unterstützung, und dazu theoretische Referenzen wie jene auf die Politikwissenschaftlerin Joan C. Tronto, die seit Jahrzehnten zum „Care“-Begriff forscht und publiziert, und Adina F. Camhy und Coline Robin als Bezugssystem diente:

“On the most general level, we suggest that caring
be viewed as a species activity that includes everything
that we do to maintain, continue, and repair our ‘world’
so that we can live in it as well as possible.
That world includes our bodies, our selves, and our
environment, all of which we seek to interweave
in a complex, life-sustaining web.“
(2)
“Caring requires that one starts from the standpoint of the
one needing care or attention. It requires that we meet
the other morally, adopt that person's, or group's,
perspective and look at the world in their terms.”(
3)
“Caring architecture will not be the same thing as
sustainability
(..) as an attempt to make architecture more
sensitive to its environmental impact. But as it was
institutionalized, its standards became more successful in
measuring what goes into a building than in monitoring the
ongoing effects of sustainable building.
Because care emphasizes processes and
relationships that extend back and forward through time,
and concerning all of the created relationships,
applying care theory to architecture would involve
making a fundamental shift in perspective:
care does not view the completed ‘thing’ – building, park,
city zone, etc. – as its ‘object’. It starts instead from
responsibilities to care, not only for this ‘thing‘,
or its creator, builder, or patron, but for all
who are engaged in contact through this thing.“
(4)

Joan C. Tronto weist ferner auf vier ethische Aspekte des Sorgetragens hin: attentiveness, responsibility, competence and responsiveness.

„Es sind verschiedene Ebenen, die das Konzept des Sorgetragens umfasst. Wo es gesellschaftliche Lücken gibt, kann das Amt für Jugend und Familie in gewisser Weise einspringen. Das sind zum Teil kleine Schritte, die aber großen sozialen Disbalancen gegenüberstehen, die gesamtgesellschaftlich und auf politischer Ebene gelöst werden müssten.“, ergänzt Adina F. Camhy.

“(..) despite the fact that care begins from asymmetrical
needs, people may be able to see how participating
in ongoing circles of care make them, over the course
of time and through a life-cycle, somewhat more equal.
Such reciprocity makes it more likely that people will
recognize needs, take responsibility for the needs of others,
participate in care giving and be honest about how well
care is working. When people live in communities
where such caring seems a part of their ongoing life together,
they feel safer, pay more attention to their environment.

(5)

Als Architektinnen sind sich Adina F. Camhy und Coline Robin darüber einig: „Räume sind immer in Verhandlung und dynamisch. Es sind nicht einfach bloß gebaute Räume, die da sind, sondern es verändert sich ständig, steht in Zusammenhang mit dem Sozialen. Die Räume geben etwas vor, können aber auch angeeignet und verändert werden. Man kann sie auf so unterschiedliche Art nutzen oder umformen, umgestalten. Es ist immer eine Verhandlungssache von ganz vielen Akteuren und Akteurinnen.“

“What we care about determines what kind of society we are.“
(6)

.

Zitate in Englisch:
(1) Joan C. Tronto, Caring Architecture, in: Angelika Fitz, Elke Krasny and Architekturzentrum Wien (eds.), Critical Care. Architecture and Urbanism for a Broken Planet, 2019
(2) Bernice Fisher and Joan C. Tronto, Toward a Feminist Theory of Care, in: Emily K. Abel and Margaret K. Nelson (eds.), Circles of Care: Work and Identity in Women’s Lives, 1990
(3) Joan C. Tronto, Moral Boundaries: A Political Argument for an Ethic of Care, 1993
(4) Joan C. Tronto, Caring Architecture, in: Angelika Fitz, Elke Krasny and Architekturzentrum Wien, Critical Care. Architecture and Urbanism for a Broken Planet, 2019
(5) ebd.
(6) ebd.

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