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Michels Erfolg konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Fahrbahn, hier wie anderswo, längst nicht mehr den Fußgängern allein gehörte. Im Gegenteil: Diese wurden zunehmend als „lästige Zutat der Straße“ gesehen, wie es ein Kritiker formulierte (Pidoll 1912, S. 4; Payer 1998, S. 221-232), und hatten sich, nolens volens, an die neuen Verkehrsverhältnisse zu gewöhnen. Die 1911 von der Wiener Polizei erlassenene „Gehordnung“ räumte dem Wagenverkehr auf der Straße de jure Priorität ein (Sandgruber 1987, S. 68), und auch die Automobil-Clubs wurden nicht müde zu betonen, dass es eine Unsitte sei, wenn die Straße lesend und plaudernd zum Gehweg gemacht werde (Chaloupek et al 1991, S. 898).
In der Realität war der Verkehr gerade an der Opernkreuzung schon seit längerem nur mehr mit Hilfe eines Aufsichtsorgans zu bewältigen. Ein Polizist griff per Handzeichen ordnend in das Geschehen ein. Die Beleuchtung, ein weiterer wichtiger Sicherheitsfaktor, wurde von mehreren großen Gaslaternen, später von hohen Bogenlampen besorgt. Mit der Zunahme des Verkehrs musste die Leuchtkraft intensiviert werden, weshalb man an den Masten in vier Meter Höhe zusätzliche Glühlampen anbrachte. Zur optischen Verbesserung wurden die Masten mit Blumenkörben dekoriert.
Genau am mittig positionierten Lampenmast ließ die Stadtverwaltung im August 1907 ein weiteres ordnendes Element montieren: Eine moderne Würfeluhr, als erste elektrisch betriebene, in der Nacht beleuchtete Straßenuhr, den Takt und die Synchronisierung der modernen Großstadt in alle vier Himmelsrichtungen verkündend (Payer 2011, S. 122-149).
Spürbar metropolitanes Flair ging nun von diesem Ort aus. Die komplex organisierten Ströme der Moderne kreuzten sich eindrucksvoll, visuell genauso wie akustisch. Für den Feuilletonisten Ludwig Hirschfeld hatte dies zukunftsweisenden Charakter: „Dieses Durcheinander von Rufen, Huppensignalen und Motorgeknatter. Da hat man zum erstenmal den Eindruck: Weltstadt und bekommt ungefähr eine Ahnung, wie es in dem morgigen Wien ausschauen wird“ (Hirschfeld 1912, S. 2).
Eine Prophezeiung, die nach dem Ersten Weltkrieg nur allzu oft ins Negative kippte. Denn der immer stärker motorisierte Verkehr machte sich an der Opernkreuzung besonders unangenehm bemerkbar, wie häufige und teils dramatische Kollisionen zeigten. Wirksame Gegenstrategien wurden gesucht und im Oktober 1922 in einer neuen Verordnung gefunden. Diese besagte, dass künftig alle Passanten und Passantinnen geradeaus, in Verlängerung des Bürgersteigs, die Kreuzung zu queren hatten. Mehrere Polizisten wurden vor Ort positioniert, um die neuen Vorschriften durchzusetzen. Eine Disziplinierungsmaßnahme, die unter den Betroffenen, die es nach wie vor gewohnt waren, die Straße in alle Richtungen zu queren, auf geteilte Zustimmung stieß. Auch der renommierte Zeitkritiker Anton Kuh empörte sich heftig über das „Verbot des Taumelns“ und den „Drill“, der sich damit in Wien ausbreite. Die Verordnung war für ihn nichts als „der Versuch, das wienerische Knie zu bremsen, die Leute aus dem elliptoidischen Zufall der Fortbewegung zu reißen, eine Amtswichtigtuerei. In Ämtern taumeln und bei der Oper marschieren – das geht nicht zusammen.“ Und mit einem Seitenhieb auf die ewige Rivalin Berlin: „Man kann nicht heimlich dekretieren: Ueberall ist Wien – nur hier im Umkreis von hundert Quadratmeter soll von heute an Berlin sein“ (Kuh 1922, S. 4).
Dessen ungeachtet folgten schon bald weitere Regulierungsmaßnahmen: Die erste Verkehrsampel Wiens wurde 1926 an der Opernkreuzung installiert. Sie markierte eine neue Etappe in der Beherrschung der urbanen Mobilität (Kreuzer 1996, S. 38-39). Allerdings musste die Bevölkerung auch diesmal erst mit dem neuen Medium vertraut gemacht werden, Passanten ebenso wie Fahrzeuglenker. In den Fahrschulbüchern von damals findet sich denn auch die bezeichnende Frage: „Was bedeuten die roten, gelben und grünen Lichtsignale auf der Opernkreuzung in Wien?“ ((3)).
Und da sich die oben genannte Gehvorschrift nicht wirklich durchgesetzt hatte, wurde noch im selben Jahr eine weitere Neuerung eingeführt: Weiße Markierungen wurden auf der Fahrbahn gepinselt, die den Passanten nunmehr genau anzeigten, wo sie die Kreuzung zu queren hatten. Hier – und nur hier – galt es künftig die Straße zu überschreiten, zügig und geradeaus (Kreuzer 1996, S. 38-39)((4)).
Der Platz vor der Oper war endgültig zum Exerzierfeld der Moderne geworden. Der Kampf gegen das großstädtische Chaos fand hier seinen sinnfälligen Ausdruck. Der Weg dahin war lang und mühsam, doch er war von Erfolg gekrönt. Sieht man sich Dokumentaraufnahmen aus den 1930er Jahren an, zeigt sich eine Beruhigung der Szenerie, ein deutlich geordneteres Ineinanderfließen der Bewegungen als noch zur Jahrhundertwende ((5)).
Nationalsozialistische Herrschaft und Kriegszerstörungen brachten zwar einen empfindlichen Rückschlag für diese Bemühungen, doch schon kurz nach Kriegsende war die ordnende Kraft erneut zu spüren. Die berühmt gewordene Fotografie einer jungen russischen Besatzungssoldatin, die – korrekt und bestimmt – im April 1945 mit zwei Fähnchen den noch zaghaften Verkehr auf der Opernkreuzung regelt, wurde zum Sinnbild dafür – und natürlich zum Inbegriff dessen, wie die Macht in der Stadt nunmehr verteilt war (Wiener Stadt- und Landesbibliothek 2005, S. 59).
((1)) Vgl. http://www.stadtfilm-wien.at/film/144/ (Zugriff am 4. 5. 2012). Hier finden sich auch weitere Informationen und Analysen zum Film.
((2)) Vgl. dazu die Abbildung im Archiv von imagno/brandstätter images: http://www.imagno.at/webgate/preview.php?UURL=a8bc77d441e7b1c7fa9e4eac27... (Zugriff am 4. 5. 2012).
((3)) Posting im Online-Standard vom 8. Februar 2007, http://derstandard.at/2759555 (Zugriff am 4. 5. 2012).
((4)). Der Zebrastreifen, entwickelt nach Schweizer und britischem Vorbild, sollte sich erst in den 1950er Jahren durchsetzen.
((5)) Vgl. dazu etwa die Ausschnitte im Film „Alltagsleben“, http://www.stadtfilm-wien.at/film/144/ (Zugriff am 4. 5. 2012).
((6)) http://www.heute.at/news/oesterreich/wien/Verkehrspolizist-der-ein-Publi... (Zugriff am 30. 5. 2012). Ähnlich populär war der Verkehrspolizist Josef Lukits, der an der Kreuzung Babenbergerstraße/Burgring seinen Dienst versah und „Toscanini von der Babenberger Kreuzung“ genannt wurde (vgl. Auto-Touring, 15. Februar 1956; Bild-Telegraf, 20. März 1956; Kurier, 27. Dezember 1981). In Erinnerungen von Zeitzeugen wurden Lukits und Schmalvogel später oft verwechselt (vgl. etwa Kronen Zeitung, 1. Jänner 1982; Thomas Chorherr, Die Post und die Zeichen, in: Die Presse/Spectrum, 11. Dezember 2009).
((7)) Phonogrammarchiv – Österreichische Akademie der Wissenschaften, Arch.Nr. 6016.
Datum:
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Der Essay von Peter Payer ist erstmalig im Jänner 2013 in der Zeitschrift Derive, Ausgabe 50 mit dem Schwerpunkt: STRASSE erschienen und wird mit freundlicher Genehmigung des Autors auf www.gat.st veröffentlicht.
Peter Payer, Historiker und Stadtforscher, Bereichsleiter im Technischen Museum Wien. Zahlreiche Publikationen, zuletzt: Der Donaukanal. Die Entdeckung einer Wiener Stadtlandschaft (gem. mit Judith Eiblmayr, 2011), Eduard Pötzl. Großstadtbilder. Reportagen und Feuilletons, Wien um 1900 (hg. und kommentiert von Peter Payer, 2012).