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Exerzierfeld der Moderne, erschienen in Jänner 2013 in 'derive', Heft 50
Im Hintergrund das mächtige Opernhaus. Davor voll besetzte Straßenbahnwaggons, von Pferden gezogen, einer nach dem anderen in rascher Folge, Kutschen mit fremdländisch aussehenden Lenkern rattern dahin, ein Radfahrer huscht vorbei, in der Mitte der Fahrbahn ein Wachmann, aufmerksam das Geschehen beobachtend, wohl gekleidete Bürgersdamen promenieren mit Sonnenschirmen umher, Männer mit Hüten und Schnurrbärten eilen auf den Betrachter zu, ein Mann duckt sich unter der Kamera hindurch: Der Dokumentarfilm Le Ring, im Sommer 1896 von der Société Lumière gedreht, lässt das Straßenleben der k. k. Reichshaupt- und Residenzstadt Wien für 43 faszinierende Sekunden wieder auferstehen ((1)). Und nicht zufällig wurde für dieses erste filmische Dokument von Wien der wohl urbanste und betriebsamste Ort gewählt: die Opernkreuzung. Eine herausragende Sehenswürdigkeit im eigentlichen Wortsinn, ein bis heute hochfrequenter Repräsentationsort für die ganze Stadt.
Entstanden war die Schnittstelle von Kärnter Straße und Opern- bzw. Kärnter Ring Ende der 1860er Jahre, als die mehrspurigen Fahrbahnen samt dazugehöriger Infrastruktur und repräsentativer Gebäudekulisse fertiggestellt worden waren. Als prominenteste Eingangspforte in die Wiener Innenstadt waren hier gleich vier Architekturhighlights der frühen Gründerzeit errichtet worden. Allen voran das Operngebäude, 1869 fertiggestellt und sich mit Vorplatz und Brunnen großzügig zur Kreuzung hin öffnend; gegenüber der Heinrichhof des Ziegelfabrikanten Heinrich von Drasche, ein 1863 vollendetes Nobelzinshaus; dann das 1860 errichtete Meinl-Haus, benannt nach dem Kaffeeröster Julius Meinl I, sowie als Abschluss zwei ebenfalls 1860 errichtete Privatgebäude, die 1913 zum mondänen Hotel Bristol umgebaut wurden.
Letzteres beheimatete im Erdgeschoß, genau an der Ecke, das exklusive Lederwarengeschäft des August Sirk. Weithin als „Sirk-Ecke“ bekannt, sollte es mit Karl Kraus` Letzten Tagen der Menschheit in die Literaturgeschichte eingehen. Hier begann der so genannte Nobelkorso, der bis zum Schwarzenbergplatz reichte und zur beliebten Bühne für die Vertreter von Großbürgertum und Aristokratie avancierte. Ironisch sprach der Kunstkritiker Ludwig Hevesi von „Rittern des Chic“, „Monokel-Adel“ und „Bügelfaltokratie“, der man hier begegnen konnte (Hevesi 1895, S. 434). Literaten, von Doderer bis Schnitzler und Musil, hielten die lebhafte Szenerie fest, Maler und Karikaturisten nahmen sich ihrer an. Am bekanntesten wurde wohl jenes Gemälde von Theodor Zasche, das den Titel Ringstraßenkorso trägt und zahlreiche Prominente der Jahrhundertwende zeigt, u. a. Gustav Mahler, Otto Wagner, Leo Slezak oder Hansi Niese ((2)). (An der Stelle der „Sirk-Ecke“ ist heute eine Anker-Filiale, die „neue Sirk-Ecke“ befindet sich an der Ecke zur Mahlerstraße.)
Es war ein ständiges Menschengewühl, das die Opernkreuzung von Beginn an auszeichnete, ein lebhafter Mix aus Fußgängern, Pferden und Fahrzeugen aller Art. Sich auf der Fahrbahn zu orientieren, schien nicht immer leicht. Eine Fülle an visuellen und akustischen Reizen strömte auf einen ein, gesteigert dann noch durch das Aufkommen des Automobils. Dies musste auch der Wiener Schriftsteller und Essayist Robert Michel feststellen, der einige Zeit in der Provinz gelebt hatte, und nun, nach seiner Rückkehr im Jahr 1910, voll Staunen bemerkte: „Alle die ‚bequemen Vekehrsmittel‘ und manche andere ‚Errungenschaften‘ der letzten Jahre bewirken, daß es einem der Großstadt Entwöhnten in den ersten Tagen hier vorkommt, als sei er in ein Narrenschloß geraten.“ Um sich an die neue Reizintensität zu gewöhnen, unternahm er genau an der Opernkreuzung einen bemerkenswerten Selbstversuch: „Wenn es mir gelang, diese Stelle auch nur einmal zu überschreiten, ohne jedwede Inanspruchnahme der Nerven und des Gehirns, so mußte ich doch für alle Zukunft gefeit sein.“ Zur Unterstützung las er ein Buch, das ihm „innere Festigkeit“ und „sicheren Halt“ bieten sollte (Michel 1910, S. 1).
Lesend trat er vom Trottoir hinunter auf die Ringstraße, bemerkte aber schon nach ein paar Zeilen, wie „ein anwachsendes Lärmen in die Ohren drang. Besonders stark war das Gebrüll eines Kutschers, so als neigte er sich von der Höhe seines Kutschbockes ganz tief zu mir herab; und das Läuten einer Elektrischen klang vollends, als wäre meine Ohrmuschel die Glocke selbst.“ Unbeeindruckt las und schritt Michel weiter, ehe er seine Lektüre endgültig unterbrechen musste: „Es war, als ginge ein ungeheurer belfernder Hund gegen meine Wade los; so nahe war mir ein Auto an den Leib gerückt. Dabei gurgelten, dröhnten und zischten Laute, wie ich sie gutturaler und mißtöniger noch nie von einem Auto vernommen hatte. Allen Lärm wie einen Knoten durchschneidend, ging scharf und hoch der Aufschrei einer Hysterischen.“ Einem Unfall nur knapp entgangen, ging er – verunsichert und so zielstrebig wie möglich – weiter. Der Lärm flaute allmählich ab, lesend erreichte er das andere Trottoir, wobei er sich vor Freude über sein gelungenes Experiment sogar noch ein Stück in die Kärntner Straße „hineinlas“. (Michel 1910, S. 1-2)
((1)) Vgl. http://www.stadtfilm-wien.at/film/144/ (Zugriff am 4. 5. 2012). Hier finden sich auch weitere Informationen und Analysen zum Film.
((2)) Vgl. dazu die Abbildung im Archiv von imagno/brandstätter images: http://www.imagno.at/webgate/preview.php?UURL=a8bc77d441e7b1c7fa9e4eac27... (Zugriff am 4. 5. 2012).
((3)) Posting im Online-Standard vom 8. Februar 2007, http://derstandard.at/2759555 (Zugriff am 4. 5. 2012).
((4)). Der Zebrastreifen, entwickelt nach Schweizer und britischem Vorbild, sollte sich erst in den 1950er Jahren durchsetzen.
((5)) Vgl. dazu etwa die Ausschnitte im Film „Alltagsleben“, http://www.stadtfilm-wien.at/film/144/ (Zugriff am 4. 5. 2012).
((6)) http://www.heute.at/news/oesterreich/wien/Verkehrspolizist-der-ein-Publi... (Zugriff am 30. 5. 2012). Ähnlich populär war der Verkehrspolizist Josef Lukits, der an der Kreuzung Babenbergerstraße/Burgring seinen Dienst versah und „Toscanini von der Babenberger Kreuzung“ genannt wurde (vgl. Auto-Touring, 15. Februar 1956; Bild-Telegraf, 20. März 1956; Kurier, 27. Dezember 1981). In Erinnerungen von Zeitzeugen wurden Lukits und Schmalvogel später oft verwechselt (vgl. etwa Kronen Zeitung, 1. Jänner 1982; Thomas Chorherr, Die Post und die Zeichen, in: Die Presse/Spectrum, 11. Dezember 2009).
((7)) Phonogrammarchiv – Österreichische Akademie der Wissenschaften, Arch.Nr. 6016.
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Der Essay von Peter Payer ist erstmalig im Jänner 2013 in der Zeitschrift Derive, Ausgabe 50 mit dem Schwerpunkt: STRASSE erschienen und wird mit freundlicher Genehmigung des Autors auf www.gat.st veröffentlicht.
Peter Payer, Historiker und Stadtforscher, Bereichsleiter im Technischen Museum Wien. Zahlreiche Publikationen, zuletzt: Der Donaukanal. Die Entdeckung einer Wiener Stadtlandschaft (gem. mit Judith Eiblmayr, 2011), Eduard Pötzl. Großstadtbilder. Reportagen und Feuilletons, Wien um 1900 (hg. und kommentiert von Peter Payer, 2012).