18/04/2020

CORONA GEDANKEN 10

Von den unterschiedlichsten „Ways of Seeing“

Tagebuchnotizen in der Krise von Karin Tschavgova  

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18/04/2020

Konsequenz

©: Emil Gruber

Von den unterschiedlichsten „Ways of Seeing“

„Wir sind der Meinung, dass es immer mehr Freude macht, schöne Kunstwerke mit den eigenen Augen betrachten zu können. Deswegen sind wir sehr glücklich die Galerie wieder für Sie öffnen zu dürfen.“ Das schreibt mir eine Wiener Galerie und bringt mich zum Lachen, weil ihre Betreiber mit dem Lapsus der „eigenen Augen“ offensichtlich meinen, dass es mehr Freude macht, Kunstwerke als Original direkt in der Galerie anschauen zu können. Ich interpretiere diese Anmerkung als Gegensatz zur Präsentation von Kunst im Web, wie das zurzeit viele der geschlossenen Museen und Galerien auf der ganzen Welt mit ihren Sammlungen und Beständen machen – notgedrungen im wahrsten Sinn des Wortes. Den Unterschied in der Qualität der Betrachtung eines Kunstwerks machen die Galeristen daran fest, dass man es einmal als Abbildung am Bildschirm und einmal als Original in einer Mappe oder an der Wand ihrer Galerie sehen kann. Dies ist für mich ungefähr so wenig spannend wie die banale Erkenntnis, dass ein Kunstdruck aus dem Museumsshop zu Hause, über der Couch aufgehängt, nicht denselben „freudigen“ Effekt haben kann wie eine ungestörte Vertiefung in ein Werk im Museum oder einem Kirchenraum. 
Weil jedoch das Denken morgens so wunderbar frei schweifen kann im Corona-Klausurmodus, landen meine Gedanken nach kürzester Zeit beim wunderbaren Kunsthistoriker, Schriftsteller und Drehbuchautor John Berger, 1926 geboren, von dem Sie, werte LeserInnen, nicht nur einmal über mich, durch meine Schwärmereien, gehört haben.
Er war vielleicht der erste Kunsthistoriker, der den subjektiven Zugang zu einem Werk nicht nur thematisierte, sondern ihn auch guthieß. Das war damals, 1972/73, als er in seinem Buch The Success and Failure of Pablo Picasso ungeniert Picassos Spätwerk als nicht bedeutend einschätzte und mit der BBC-Fernsehserie Ways of Seeing und seiner einzigartigen Bildschirmpräsenz fast ein Star wurde, unorthodox und absolut neu. Neugierig befragt Berger Kunstwerke, stellt einen Kontext zur Zeit und den Lebensumständen der Künstler her, sodass seine Einsichten, Deutungen, Behauptungen immer mit dem Leben verankert sind.
Noch mehr: Wieviel die Rezeption eines Kunstwerks auch mit dem eigenen Leben und dem Gemütszustand im Moment des Betrachtens zu tun hat und dass sie daher immer subjektiv ist, lässt sich sehr schön nachvollziehen in seinem Essay: Zweimal in Colmar: Der Isenheimer Altar, neu gesehen“ aus dem Band Das Leben der Bilder oder die Kunst des Sehens. Diesen hat Berger zweimal besucht, einmal vor 1968 und einmal danach, im Abstand von 10 Jahren. Vor 1968 waren ihm vor allem der Schmerz des leidenden Christus, sein ausgemergelter Körper, das Grauen des von Pfeilen durchbohrten Hl. Sebastian ins Auge gesprungen, Schmerz und Düsternis. In der Zwiesprache mit seinen Notizen aus dem frühen Besuch stellt er fest, dass er nach 1968 anderes, Helleres wahrnimmt. Er sieht Tröstliches und erkennt, dass die von ihm bemerkten Veränderungen nicht im Kunstwerk, sondern in den unterschiedlichen Umständen der jeweiligen Rezeption, die bei John Berger auch immer immanent politisch geprägt ist, begründet sind.
Es wäre interessant, auch jetzt, zu Zeiten der Corona-Krise, so ein Bildbetrachtungsexperiment zu machen, zwischen Erinnerung und Neuentdeckung auszuloten, ob diese für uns Nachkriegsgeborene erstmalig so außergewöhnliche, viele verunsichernde Zeit unsere Wahrnehmung eines Kunstwerks beeinflusst. Ob scheinbare Gewissheit schwindet und manches in Frage gestellt wird, das uns vielleicht zuvor gar nicht aufgefallen ist. 
2004 habe ich dieses Büchlein als sommerliche Reiselektüre auf GAT schon einmal empfohlen. Damals schrieb ich: Hat man einmal Turners Bilder mit den Augen von John Berger gesehen, der gar keine Hemmungen hat, Dampf, Gischt und Wasser in den Bildern des wichtigsten englischen Malers des 19.Jahrhunderts abzuleiten von dessen prägenden Jahren im Barbierladen seines Vaters, kriegt man Lust auf mehr. Mehr von diesen eigenwilligen Interpretationen, die dabei immer plausibel bleiben. Berger fordert nicht nur zum genauen Schauen auf, er zeigt auch den Weg zum eigenständigen Denken und Beurteilen, ohne ein Kunstwerk vom Sockel zu stürzen. Mich mitzuziehen schafft John Berger immer. Er fordert auf zu einer Reise, die bei aller Neugier eine vorsichtige, emphatische Annäherung ist – ob real als Reise, wenn man mit ihm Facteur Cheval und seinen Palais Ideal in Hauterives begegnet oder als Abenteuer im Kopf. Mit ihm begegnet man Giacometti auf der regennassen Straße in Paris und er kann einem sofort weismachen, dass im Gesicht des Künstlers sein Temperament und folglich sein ganzes Werk zu lesen ist (ähnlich wie bei Beckett, sagt Berger) Und er kann erstaunen, wenn er Francis Bacon mit Walt Disney vergleicht.
So unorthodox, wie der 2017 verstorbene österreichische Staatspreisträger war, kann er nicht unmodern werden und verjähren. Er ist kein Bestseller, sondern ein Longseller. Deshalb empfehle ich ihn für die Reise im Kopf auch heute wieder. Sie müssen ihn auch nicht sofort lesen. Nur kaufen sollten Sie ihn bald. Wer weiß, wann und zu welcher Tageszeit Sie die Lust auf die Lektüre von John Berger packt und wer weiß, wie lange dieses Büchlein noch im schönen Wagenbach-Leinen in Rot erhältlich ist.

John Berger, Das Leben der Bilder oder die Kunst des Sehens
bei Wagenbach erschienen (andere Bücher von John Berger bei Hanser)
1980 erstmals, 2003 in der 9. Auflage
Reisekosten: 18,50 Euro 
Wieder wärmstens empfohlen von Karin Tschavgova. 
Post scriptum: mehrere Episoden von The Ways of seeing kann man auf Youtube sehen. Meine Neuentdeckung!

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