03/04/2020

CORONA GEDANKEN 05

Albert Camus (1913 – 1960)
Die Pest (1947)

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Essay von Sigrid Verhovsek und Michael Klammer zur Corona-Krise

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Hinweis:
Artikel – Albert Camus – ein Leben wie ein Roman. Oliver Pink, 18.04.2020, Die Presse, Seite 13 (s. Link 
Artikel Albert Camus)

03/04/2020

Die Entfernung

©: Emil Gruber

„Nichts ist so unspektakulär wie eine Seuche“
Albert Camus, Die Pest
(literarische Spende zwei
von Mathias Grilj)

... Mon Dieu, ist das aktuell.

Nach dem Ende des 2. WK schreibt Albert Camus ein Buch über den Krieg, aber weil er nicht von Kampfhandlungen an der Front berichten will, sondern im Gegenteil, die Ereignisse der im Krieg ja tatsächlich nicht vorhandenen „Zivilbevölkerung“ schildern möchte, greift er sinnbildlich zur Pest. Camus verwendet keine Kriegsmetaphern. Die Pest ist der Krieg.

Das fiktive Geschehen ereignet sich in Oran, eine reale, und wie Camus meint, „gewöhnliche Stadt und nichts weiter als eine französische Präfektur an der algerischen Küste.“
Im Frühling des Jahres 194-" beginnt der Bericht des zunächst ungenannten „Geschichtsschreibers“, der von den ersten Anzeichen „einer Serie von schlimmen Ereignissen“ beginnend eine Chronik des Geschehens entwirft.

Als die ersten erschreckenden Berichte von CoVid 19 – noch so weit entfernt, wie durch ein umgedrehtes Fernglas – die Runde machten, stöberte ich im Buchregal nach der „Pest“. Leider vergeblich, wiedermal verborgt und nicht zurückerhalten. Die Nachbestellung brachte die interessante Erkenntnis, dass das Buch neu übersetzt wurde, und soweit ich mich an die alte Fassung erinnern kann, hat das durchaus Charme.
Aus aktuellem Anlass wurde das Buch auch einem lieben Freund zum Geburtstag geschenkt, seine Feier war einer der letzten Abende, an dem wir noch einmal in großer Runde am Markt gesessen, daran denke ich heute gerne zurück. (Das Geschenk wurde übrigens von einem anderen Freund wohlwollend mit „geschmacklos“ kommentiert.)

In Oran taumeln die Ratten, sie sind krank, kommen aus allen Löchern, um zu sterben. Man ahnt, was kommt: Die Krankheit greift auf die (auf den) Menschen über.
[Er] „sah noch immer aus dem Fenster: Auf der einen Seite der Scheibe der frische Fühlingshimmel, auf der anderen das Wort, das noch im Zimmer nachhallte: die Pest.“ (Camus, Die Pest, 48f)

Nach anfänglichen Zögern – und dem beschwörenden: Ich bin nicht zuständig, ich kann das nicht entscheiden, wird die Stadt geschlossen, militärisch abgeriegelt, Ausgangssperren werden verhängt, das künstliche Licht wird nächtens abgedreht.

„In den ersten Stunden des Tages, an dem die Anordnung in Kraft trat, wurde die Präfektur von einer Menge von Anfragenden bestürmt, die am Telefon oder bei den Beamten ebenso Teilnahme erregende wie gleichzeitig nicht überprüfbare Situationen darlegten. Wir brauchten allerdings mehrere Tage, bis uns bewusst wurde, dass wir uns in einer ausweglosen Situation befanden und dass die Wörter „verhandeln“, „Gunst“, „Ausnahme“ keinen Sinn mehr hatten.“ (Camus, Die Pest, 78)

Während des Krieges war Camus für lange Zeit – krankheitsbedingt – von seiner Frau getrennt gewesen, und dieses „Voneinander-getrennt-sein“ ist folglich auch eines der Leitmotive der „Pest“. Auch hier ist aus Sorge vor Ansteckung das einzige Kommunikationsmittel das Telegramm, das die Menschen dazu zwang, „die Zeichen dieser alten Verbundenheit aus einer Blockschrift einer Depesche von zehn Wörtern herauszulesen.“ (Camus, Die Pest, 79)
Wie gut, dass wir heutzutage emojis und social media zur Verfügung haben, die uns unsere Sprachlosigkeit bewusst machen, und wie glücklich können wir uns schätzen, unser Exil mit den modernsten Mitteln der Technik in ein für andere sichtbares Exil zu verwandeln.
Eine Freundin, die  derzeit unter der (physischen) Trennung von Tochter und Enkeltochter leidet, erzählte mir, wie die Enkeltochter, unbefriedigt von der 2d-Bildschirm-Nonna, versuchte, hinter den pc zu krabbeln, um die dort vermeintlich Versteckte doch zwecks gemeinsamen Spielens, Drückens, Spürens, ... hervorzuholen.

Die Epidemie in Oran dehnt sich aus, und keiner traut sich mehr zu sagen, das wird bald vorbei sein, das kann nicht lange dauern. Jeder auf seine Art, versuchten die verschiedenen Charaktere ihren Weg durch die Katastrophe Epidemie zu finden, scharf gezeichnete Typologien des jeweiligen Umgangs mit der Katastrophe, die sich derzeit auch bei uns langsam herauskristallisieren. Dem Erzähler Camus am ähnlichsten und so auch der fiktive Geschichtsschreiber ist der Arzt Rieux, der nicht an Gott glaubt, der kein Held sein will, sondern ein Mensch, und der sagt: „Bei alledem handelt es sich nicht um Heldentum. Es handelt sich um Anstand. Das ist eine Idee, über die man lachen kann, aber die einzige Art, gegen die Pest anzukämpfen, ist der Anstand. (...) Ich weiß nicht, was [Anstand] im Allgemeinen ist. Aber in meinem Fall weiß ich, dass er darin besteht, meinen Beruf auszuüben.“ (Camus, Die Pest, 187) – also zu tun, zu handeln.

Die Epidemie als solche ist sinnlos – wie der Krieg, und man darf ihr auch keinen Sinn „zuschreiben“. Sie ist absurd, ein Virus will leben und sich verbreiten (und sich die Erde untertan machen?). Dass er dabei manchmal seinen Wirt tötet, ist gar nicht gewollt oder im Besonderen böse gemeint – wenn diese Kategorie bei Camus eine Bedeutung hätte. Wie der Krieg ist die Pest aber auch ein großer „Gleichmacher“, trägt das Potenzial einer Nivellierung in sich – aber dies ist ein Nebeneffekt, der unter den „neuen normalen“ Umständen sicher bald wieder vergessen sein wird, eben weil nicht freiwillig, bewusst erarbeitet oder erdacht, sondern an die Plage gebunden.

Die Epidemie ist auch keine Geißel Gottes, die Spreu von Weizen trennt. Sie ist keine „Chance“ für uns – eine „Chance“, umzudenken, hatten wir zuvor! – jetzt ist es Zwang, zu überlegen, wie entscheide ich richtig, wie handle ich richtig.
Die Epidemie ist eine Plage, dennoch keine wohlgemeinte, von Gott oder einer glücklichen Fügung gesandte „Erinnerung“ für uns an das, was wichtig wäre.
All dieses Gerede von Entschleunigung (übrigens physikalisch totaler Blödsinn, es gibt nur Beschleunigung, sowohl beim schneller werden wie beim Abbremsen wird das gleiche Wort verwendet) ist ja hübsch und aufmunternd, aber leider ist zu sagen, dass es Menschen gibt, die derzeit Angst haben, ihre Miete nicht mehr zahlen zu können, und so nicht nur die von uns ArchitektInnen als inferior angeprangerte Rasenfläche zwischen den Häusern, sondern gleich das Dach über dem Kopf zu verlieren.
Aber im Geiste des Neoliberalismus müssen wir wohl auch aus dem Leid Gewinn schöpfen, die Krise zu etwas Positivem verkehren.

Während Camus` Pest bleiben zwar in Oran die Cafés geöffnet, aber durch die sich ausbreitende Krankheit gelangen mehr und mehr Menschen aufgrund der Ansteckungsgefahr in eine tatsächliche Isolation, vegetieren in überfüllten, mehr und mehr verwahrlosten Lagern, sterben einsam, können nicht verabschiedet werden. Auch die Trauer um sie ist einsam.
Camus` Pest vergeht – im Winter nehmen die Neuerkrankungen ab, unerklärlich, ein Fest wird gefeiert, manche finden wieder zueinander und würden wenigsten „für einige Zeit glücklich sein“, viele sind tot.
„All jene [...], die sich über den Menschen hinaus an etwas gesandt hatten, was sie sich nicht einmal vorstellen konnten, hatten keine Antwort erhalten.“ (Camus, Die Pest, 341)

Keiner weiß, ob die Krankheit wirklich oder für immer weg ist, weil der Pestbazillus nicht nach menschlichen Regeln spielt, sondern allein seinem Überleben gehorcht.
Die Epidemie ist absurd.
„Wenn ein Krieg ausbricht, sagen die Leute: ‚Es kann nicht lange dauern, es ist zu unsinnig.‘ Und ohne Zweifel ist ein Krieg wirklich zu unsinnig, aber das hindert ihn nicht daran, lang zu dauern. Dummheit ist immer beharrlich.“ (Camus, Die Pest, 46)

Mon Dieu, ist das aktuell.

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Camus, Albert (1947, 1962): Die Pest.
Deutsch von Uli Aumüller. 86. Auflage
Oktober 2019, Rowohlt Verlag

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