02/04/2019

Jeden ersten Dienstag im Monat veröffentlicht GAT in der Kolumne Aber Hallo! Anmerkungen von Karin Tschavgova zu aktuellen Themen von Architektur und gebauter Umwelt.

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02/04/2019
©: Karin Tschavgova

Grenzziehungen

Wir werden von Anfang an, oder spätestens in Kindergarten und Schule darauf konditioniert, Grenzen zu ziehen und Grenzen zu respektieren. Mit dem ersten Nein beginnen wir, unsere „Ich-Grenzen“ und damit unser Selbstbild auszudrücken, und jedes Mein – meine Puppe, mein Spielzeug – ist eine Abgrenzung auf dem Weg und der Suche nach der persönlichen Identität.
Die einfachste Assoziation mit dem Begriff der Grenze ist natürlich jene der territorialen Markierung, die immer ans Räumliche gebunden ist. Der Zaun um mein Haus verdeutlicht, was mir gehört, er verdeutlicht meinen Besitz und meine Privatsphäre. Der Zaun an der Grenze in Spielfeld soll ein unmissverständliches Zeichen dafür sein, dass dieses Österreich ein Hoheitsgebiet ist, zu dem der Draußenstehende keinen Zugang erhält. Das gilt auch für Trumps Traum von der Mauer an der Grenze zu Mexiko. Die Gefängnismauer wiederum soll uns vor jenen schützen, die moralische, gesetzlich festgelegte Grenzen und Normen verletzt haben. Manchmal soll die Grenze auch die, die drinnen sind, vor dem Schlechten, Bösen und den Verführungen draußen schützen – man denke an die Mauer zwischen Ost- und Westberlin, die vor 20 Jahren gefallen ist.
Die Hoffnung vieler, der Vision eines grenzenlosen Europas mit dem Abbau des Eisernen Vorhangs und dem Mauerfall näherzukommen, war trügerisch, vielleicht sogar naiv. Das lehrt uns die Geschichte seit 1989 und die aktuelle Entwicklung Europas der letzten Jahre.
Und doch ist die Grenze abseits von ideologischen und moralischen Markierungen nicht weniger oder mehr als eine gedachte Linie, durch die zweierlei voneinander unterschieden wird, ist eine Grenzziehung nicht notwendigerweise ein Werturteil, eine Ausgrenzung oder eine Diskriminierung. Hier die einen, dort die anderen. Was ich hier bin, ist der andere dort nicht.
Vielleicht gehen wir deshalb so unbekümmert mit der Trennung zwischen dem Hier und dem Dort um und bemühen uns gar nicht um Alternativen zu einer Manifestation der Grenze, die unübersehbar ist. Sie haben es bemerkt. Ich will, ganz konkret, auf etwas hinaus, dessen Sinnfälligkeit überhaupt nicht in Frage gestellt wird.
Genau. Das Bundesministerium für Verkehr, Innovation und Technologie hat im Februar des Jahres seine Lärmschutzrichtlinien „angepasst“. Angepasst worauf? Na, an die Tatsache, dass Anrainer, etwa an der Westautobahn in Ansfelden oder auch in Wiener Neudorf im Süden von Wien, gegen die immer stärker werdende Lärmbelästigung protestieren. Angepasst nicht etwa durch eine Geschwindigkeitsbegrenzung auf 80 Stundenkilometer, wie sie der Ansfelder Bürgermeister von 2006 schon gefordert hatte. Nein, durch eine neue Bestimmung, wonach die Asfinag Lärmschutzwände nun nicht mehr nur vier Meter hoch, sondern – sage und schreibe – 7,5 Meter hoch bauen darf. Das sind 2,5 Geschoße eines Einfamilienhauses.
Vermutlich glaubt der Verkehrsminister wirklich, dass er damit Umweltschutz betreibt. Und vielleicht muss man die Teststrecke für Tempo 140 auf der Westautobahn auch unter diesem Aspekt sehen. Schließlich ist der Höllenlärm dann schneller wieder vorbei, oder nicht?
Ach Sie, Schreiberin, immer so kritisch, so negativ und mieselsüchtig. Immerhin wird etwas bewegt. Wurden bis jetzt 20 bis 30 Millionen Euro jährlich für Lärmschutz ausgegeben, werden es ab jetzt zwei bis drei Millionen mehr sein, lässt die Asfinag verlautbaren. Wirtschaftsförderung durch Aufträge an Baufirmen und die Anrainer zufriedengestellt – was will man mehr?
Dass die Bewohner von Ansfelden nicht mehr wollen und sich keine Alternativen vorstellen zum auf diese Art begrenzten Ausblick auf Hügel, Wiesen und Wälder in ihrer Umgebung, ist mir schleierhaft. Da gibt es, vermute ich, die Grenzen schon im Kopf und die Vorstellung, dass Massenverkehr und täglicher Stau auf der Autobahn unumgänglich sind – eine Tatsache, zu der es gar keine Alternative gibt. Wer weiß, vielleicht ist es auch die Angst, durch umfassendere, weitgehende Vorgaben zum Umweltschutz selbst eingeschränkt zu werden im individuellen Ausleben seiner Bequemlichkeit. Wenn es keine Pendlerpauschale mehr gäbe, wenn nur mehr Fahrgemeinschaften gefördert würden. Wenn der Umstieg auf sehr gut ausgebaute Bahn- und Busverbindungen die einzig vernünftige Alternative wäre (mit einem völlig anderen als heute von unserer Regierung forcierten Verkehrskonzept möglicherweise in 10 bis 20 Jahren).
Haltet durch, gebt nicht auf, Schüler und Schülerinnen der Freitagstreiks, denn Ihr habt erkannt, dass Veränderung politisches Wollen und strukturelle Vorgaben und Maßnahmen braucht, weil der Mensch ein beharrendes Wesen ist, das sich kaum freiwillig aus der Komfortzone begibt, außer im Sport. Ein Systemwechsel wird Euch selbst natürlich auch treffen. Die Aussicht auf den Abbau von zweieinhalb Geschoße hohen Lärmschutzwänden, auf grenzenlosen Ausblick, weil sich Autofahrer in lärm- und abgasarmen vierrädrigen Untersätzen friedlich mit Radfahrern und Fußgängern die frühere Autobahntrasse teilen, ist doch etwas. Dann werden wir alle, wer weiß, auch wieder lieber daheimbleiben in unserem individuellen, immer noch begrenzten kleinen Paradies – im Garten oder am Balkon (siehe den Berliner Film „Urlaub in Balkonien“) und in unseren mit ausreichend erholsamem Grün versehenen Städten.

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