Graz

flussabwärts, flussabwärts von Wilhelm Hengstler

©: Literaturverlag Droschl

Wilhelm Hengstler

©: Wilhelm Hengstler

Es sollte noch einmal eine – vielleicht letzte – große Herausforderung werden: mit dem Rad am Ufer der Donau entlang bis zu ihrem Nullpunkt am Schwarzen Meer. Doch es kommt anders: Wenige Tage vor der geplanten Reise erleidet Wilhelm Hengstler einen Gefäßverschluss im linken Bein, der eine Operation erforderlich macht. Aus der Reise ins Donaudelta werden längere Spitalsaufenthalte, aus dem geplanten Bericht einer Rumänienreise eine 'Reise rund um das Krankenzimmer'.

Zwei Jahre später steigt Hengstler doch noch aufs Rad und holt die Tour nach.

flussabwärts, flussabwärts
ist ein doppeltes Reisebuch geworden: Die Kapitel mit den Berichten von den Etappen der Reise durch Kroatien, Serbien und Rumänien wechseln sich ab mit den Kapiteln der Reise durch das Spital, Begegnungen mit merkwürdigen Wirten und seltsamen Hotels folgen im nächsten Abschnitt auf Schilderungen nicht minder merkwürdiger Mitpatienten und medizinischer Routinen. Hengstler durchbricht die Rituale und Gesten des Reisebuchautors durch das Aufbrechen der Chronologie, er legt die Entstehung des Buches offen und desillusioniert alle romantischen Erwartungen an die selbstentblößenden Genres von Reise- und Krankenbericht – um einer anderen Form von Aufrichtigkeit treu zu bleiben.

Eine Fahrradreise zum Schwarzen Meer wird zu einer Reise rund um das Krankenzimmer.

Textauszug
Nachts steigerte sich das Pochen in dem operierten Bein zu einem dumpfen Wühlen, aber da ich wegen der gereizten Blase immer wieder aufstehen musste, verzichtete ich auf eine Infusion mit Schmerzmitteln. Die Flasche wurde üblicherweise an einen sogenannten Galgen gehängt, und ich fürchtete beim Verlassen des etwas zu hohen Bettes, dieses Gestell mitsamt der Flasche umzuwerfen oder, zappelnd vor Ungeduld, in dem engen Zimmer gegen eines der Betten zu stoßen.
Es mag aber auch sein, wie schon beim letzten Mal, dass der Grund für meine Erregung wieder die Angst vor der bevorstehenden Entlassung war. Im Dunkel des Zimmers 416 fragte ich mich, ob all die Reisen an exotische Orte oder all meine Radtouren nicht Fluchten vor einem Leben gewesen waren, dessen banales Elend ich mir schon lange nicht mehr einzugestehen wagte. Schon das erste Mal auf einem Rennrad wurde mir klar, dass diese aus solchen Ausritten entstehenden Freiheitsräusche gleichzeitig Beschreibungen einer begrenzten Existenz waren. So schwerelos ich das nachmittägliche Dahinfliegen auch erlebte, erwartete mich am Ende doch wieder der gewohnte Trott. Mit den immer weiteren Kreisen, die ich bis zur hereinbrechenden Dunkelheit zog, verdrängte ich doch nur ein eigentlich ödes Leben. Auf Stunden gleichsam unschuldiger Freiheit folgte die Rückkehr in eine von Zwängen und Schuld beladene Normalität, und obwohl ich mir von Anfang an vorgenommen hatte, diesem Ritual nicht zu verfallen, wurde ich doch bald zu seinem Opfer. Auch dieser Spitalsaufenthalt war nur eine befristete Auszeit, ein vorübergehender Trip, der zurück in ein widersprüchliches Leben führte, an das zu denken mich mit nächtlicher Raserei erfüllte.

Wilhelm Hengstler
Geboren 1944 in Graz, Jusstudium, Promotion 1969. Assistent am Institut für Arbeits- und Sozialrecht Uni Graz. Erste literarische Veröffentlichung in der Literaturzeitschrift Manuskripte, 1966. Journalistische Tätigkeit als Film- und Theaterkritiker in diversen Printmedien,1977 – 1980 Kulturredakteur der Kronenzeitung. Film- und Theaterregie (u.a. Fegefeuer, 1985, Tief Oben, 1995. Leiter des Filmreferates im Forum Stadtpark (Filmfestivals im Rahmen des steirischen herbstes mit Black American Cinema, u.a.), ca 30 Referatsveranstaltungen.

Veröffentlichungen (u.a.)
Die letzte Premiere. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1987
fare. Literaturverlag Droschl, Graz 2003
Hanns durch die Zeit (Drehbuch). Bibliothek der Provinz, 2007
Pisco Sour, Gedichte & Bilder, Sonderzahl Verlag, 2012
Soros, Uraufführung Theater im Keller, 2013

Auszeichnungen und Preise (u.a.)
Theodor-Körner Preis, Viennale-Preis 1989; Manuskriptepreis 2004; Literaturstipendium der Stadt Graz 2006.

Wilhelm Hengstler
flussabwärts, flussabwärts
erscheint am 14. September 2015 bei Droschl, Graz
ISBN: 9783854209683
19,00 €
gebunden, 21 x 13 cm, 240 Seiten

Veranstaltungsort
Netzwerktreffen
16. + 17.11.2023
 
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